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Allgemein Weit verbreitete Irrtümer

Was für eine Einwanderungspolitik wünschen sich die Deutschen?

Worum es hier geht

Einwanderung nach Deutschland ist ein häufig diskutiertes Thema. Und angesichts der stetig wachsenden Bevölkerung Afrikas bei stetig geringem Wohlstand dort wird dies auch noch lange der Fall sein. Bei diesen Diskussionen diskutieren aber vor allem Politiker und Journalisten. Die Meinung der Bevölkerung wird selten erfragt.

Was denken die Deutschen über Einwanderung? Wie rational sind ihre Wünsche? Diese zwei Leitfragen liegen dem folgenden Artikel zu Grunde. Natürlich sind diese beiden Fragen viel zu groß, um in einem kurzen Artikel umfangreich beantwortet werden zu können. Stattdessen werde ich mich auf einen bestimmten Teilaspekt beschränken: den Unterschied zwischen Asylmigration und Immigration außerhalb des Asylsystems.

Im Folgenden werde ich vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung erst einen sehr kurzen Überblick über die Einwanderung nach Deutschland geben und die derzeitige deutsche Einwanderungsdebatte darin einordnen und anschließend die Wünsche der Bevölkerung darstellen.

Eine sehr kurze Geschichte der Einwanderung nach Deutschland

Einwanderung nach Deutschland hat es immer gegeben. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es verschiedene Einwanderungswellen, die sich zum Teil stark unterscheiden. In den 1950er, 60er und 70er Jahren kamen im Zuge des Wirtschaftswunders Millionen Gastarbeiter nach Deutschland. Diese stammten hauptsächlich aus Südeuropa und der Türkei. Diese Migranten kamen nach Deutschland, um hier zu arbeiten und Einreiseerlaubnisse waren auf die Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarktes angepasst. Diese Menschen kamen also, weil ihre Arbeitskraft benötigt wurde.

Später wurde eine ganz andere Form der Migration relevant: Asylmigration. Jeder Mensch hat das Recht in Deutschland Asyl zu beantragen. Dies bedeutet, Deutschland um Schutz vor Krieg oder Verfolgung zu bitten. Menschen das Asyl beantragen nennt man Asylbewerber. In der Praxis reisen solche Menschen zunächst meist ohne Einreiseerlaubnis nach Deutschland und erklären dort an einer offiziellen Stelle, dass sie Asyl beantragen möchten. Dann beginnt der Asylprozess in dem geprüft wird, ob sie wirklich vor Krieg oder Verfolgung geflüchtet sind, oder dies nur vorgeben. Denn jeder kann Asyl beantragen. Asylbewerber sind daher keinesfalls gleichzusetzen mit Flüchtlingen im rechtlichen Sinne. Als Flüchtlinge bezeichnet man Menschen, die tatsächlich vor Krieg oder Verfolgung fliehen, während Asylbewerber nur behaupten es zu tun.

In Folge der Jugoslawienkriege ab 1991 kamen viele Asylbewerber nach Deutschland. Schon damals gab es heftige Diskussionen um eine Verringerung der Migration. Eine rechtsextreme Partei, Die Republikaner, zogen erstmals in Landesparlamente in Baden-Württemberg und Berlin ein. Als Folge wurde das Asylgesetz abgeändert, um die Asylmigration stark zu reduzieren. Das hat ja super geklappt 😀

Natürlich stieg die Asylmigration in den kommenden Jahrzehnten noch einmal deutlich, anstatt zu sinken. Im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise, die im Herbst 2015 begann, kamen mehr als 2 Millionen Asylbewerber nach Deutschland. Die meisten von ihnen befinden sich 2022 immer noch in Deutschland.

Die derzeitige Einwanderungsdebatte

Im Zuge dieser Krise zog die AfD 2017 als erste Partei rechts der CSU in den Bundestag ein und ist dort seitdem vertreten. Kontroverse Debatten über Zuwanderung (meist geht es um eine Reduzierung derselben) hatten zu dieser Zeit auch Hochkonjunktur. Doch in diesen Diskussionen kämpften meist Spitzenpolitiker der AfD mit solchen der übrigen Parteien und Journalisten gaben ihren Senf dazu. Eine Gruppe die relative wenig Beachtung fand ist die deutsche Bevölkerung. (Sicher, Aktionen und Meinungen von Organisationen wie PEGIDA waren in den Medien sehr salient. Doch Angehörige dieser Organisationen scheinen politisch nicht aus der Mitte der Bevölkerung zu kommen, sondern deutlich weiter rechts positioniert zu sein.)

Dies mag erstaunen. Wenn darüber diskutiert wird, wer Kanzlerkandidat werden soll, werden direkt Umfragen über die Beliebtheit aller Kandidaten zu Rate gezogen. Auch in vielen inhaltlichen Fragen hat sich die Regierung Merkel auf Umfragen mit repräsentativen Stichproben und damit auf die Meinung der Deutschen gestützt. Die Flüchtlingskrise war das erste Großereignis in dem sie gegen den Großteil der Deutschen regierte (Kurbjuweit 2021).

Denn es ist in der wissenschaftlichen Literatur zu Migrationspräferenzen bekannt, dass die meisten Europäer und die meisten Deutschen insbesondere sich eine Verringerung der Einwanderung wünschen. Dies war selbst vor 2015 der Fall (Dempster und Hargrave 2017; Hainmueller und Hopkins 2014).

In der Folge traf die Regierung Merkel dann aber viele Entscheidungen, durch die die Einwanderung erhöht, statt verringert wurde. Ein Beispiel ist die Aufnahme tausender sich in Ungarn befindlicher Asylbewerber zu Beginn der Krise, die Deutschland keinesfalls hätte aufnehmen müssen. Diese Aktion schürte Erwartungen unter vielen Menschen in Deutschland aufgenommen zu werden und stachelte so viele dazu an sich auf die Reise nach Deutschland zu begeben.

Wieso wird die Bevölkerung nicht gefragt?

Eine mögliche Begründung dafür gegen die Bevölkerung zu regieren ist die Idee, dass die Bevölkerung irrational handelt oder uninformiert ist, oder wenigstens weniger rational und unformatiert als die Kanzlerin. So wie Eltern sich häufig über die Entscheidungen ihrer Kinder hinwegsetzen, sollten Politiker nach dieser Logik die Meinung der Bevölkerung im Interesse derselben ignorieren. Das ist dann nicht böse gemeint, sondern nur ein Ausdruck von Fürsorge und Weitsicht.

Niemand geringerer als Alexander Hamilton, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten und deren erster Finanzminister, vertrat diese Ansicht. In seinen Worten:

The republican principle, does not require an unqualified complaisance to every sudden breeze of passion, or to every transient impulse which the people may receive from the arts of men, who flatter their prejudices to betray their interests.”

When occasions present themselves, in which the interests of the people are at variance with their inclinations, it is the duty of the persons whom they have appointed to be the guardians of those interests, to withstand the temporary delusion…. conduct of this kind has saved the people from very fatal consequences of their own mistakes, and procured …their gratitude to the men who had courage and magnanimity enough to serve them at the peril of their displeasure.

Quelle: Hamilton et al. (2009)

Aber, ist der Wunsch vieler Deutscher nach einer Verringerung der Einwanderungspolitik wirklich irrational? Im Folgenden wollen wir uns einmal genauer ansehen was für eine Einwanderungspolitik die Deutschen eigentlich wollen.

Was will die Bevölkerung?

Es ist bekannt, dass die meisten Europäer im Allgemeinen, und die meisten Deutschen im Besonderen, sich eine Verringerung der Einwanderung in Ihr Land wünschen. Aber ist Deutschland wegen der geringen Geburtenrate nicht auf Einwanderung angewiesen und hat es nicht stark durch Einwanderung von Fachkräften profitiert? Ist diese Meinung nicht folglich nicht irrational?

Ich denke sie ist nicht irrational. Und es ist recht leicht zu verstehen wieso. Dafür muss man nur ein kleines bisschen differenzierter an die Sache herangehen. Im öffentlichen Diskurs werden viel zu oft alle Einwanderer in einen Topf geworfen. Der Asylbewerber aus dem Kongo wird da auf einmal mit dem serbischen Arzt oder der französischen Austauschstudentin gemeinsam als Einwanderer betitelt. Dies verkennt, wie verschieden Einwanderer sind, und es führt zu Missverständnissen, wie wir jetzt sehen werden.

Die Rufe nach einer Verringerung der Einwanderung wurden in den 1990er Jahren und währen der jüngsten Flüchtlingskrise besonders laut. Beide Male ging es um eine bestimmte Art von Einwanderern; Asylbewerber. Auch Rechtspopulisten, wie etwa die AfD in Deutschland scheinen sich meistens auf Asylbewerber zu fokussieren, wenn sie Einwanderung thematisieren. Wie oben beschrieben unterscheiden sich Asylbewerber auch stark von anderen Einwanderern. Andere Einwanderer werden wenigstens teilweise nach ihren Qualifikationen ausgesucht. Bei Asylbewerbern findet so eine Auslese nicht statt. Dies lässt vermuten, dass sie weniger zur deutschen Gesellschaft beitragen können als anderer Einwanderer. Es ist also naheliegend eine Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und anderen Einwanderern vorzunehmen.

Dies habe ich in einer Umfrage getan, die ich 2021 habe durchführen lassen. Alle Befragten haben online teilgenommen. Die Umfrage dauerte etwa 15 Minuten. Teilnehmen durften Volljähre mit deutscher Staatsangehörigkeit. Außerdem habe ich darauf geachtet, dass die Umfrage repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung bezüglich der Attribute Bildung, Alter, Geschlecht und Einkommen ist. Das heißt, dass etwa 51% der Teilnehmer Frauen waren, so wie auch etwa 51% der Deutschen über 18 weiblich sind. Entsprechend kann man meine Befunde auf die gesamtdeutsche Bevölkerung übertragen. Genau 2101 Menschen haben mir in dieser Umfrage eine Menge über ihre Einstellungen zum Thema Migration verraten. Wer weiß, vielleicht sind Sie ja einer dieser 2101!

Meinungen zu Asylbewerbern

Eine der Fragen lautete wie folgt:

Sollen in den kommenden Jahren mehr oder weniger Asylbewerber aufgenommen werden als in den vergangenen Jahren?

Die folgenden Antwortmöglichkeiten existierten: Viel weniger, Weniger, Ungefähr gleich viele, Etwas mehr, Mehr, Viel mehr. Schön symmetrisch 🙂 Wie hätten Sie geantwortet und wie denken Sie haben die Befragten reagiert?

Die Antwort auf letztere Frage sehen Sie in Abbildung 1. Diese Abbildung zeigt ein Histogramm. Auf der horizontalen Achse sind die gerade beschriebenen Antwortmöglichkeiten dargestellt. Die Höhe des grauen Balkens gibt an wie viel Prozent der Deutschen diese Antwortmöglichkeit gewählt haben. Gucken wir uns zum Beispiel den kleinen Balken ganz rechts an. Er sagt uns, dass nur etwa 2.5% der Befragten dafür sind, dass in Zukunft viel mehr Asylbewerber aufgenommen werden sollten. Der große Balken ganz links sagt uns, dass mehr als 25% dafür sind in Zukunft viel weniger Asylbewerber aufzunehmen.

Abbildung 1: Häufigkeitsverteilung gegebener Antworten auf die unten in der Abbildung dargestellte Frage. Auf der horizontalen Achse sind die sieben verschiedene Antwortmöglichkeiten auf die Frage dargestellt. Die Höhe der grauen Balken gibt den Anteil der Befragten an der diese Antwort gegeben hat.
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf einer selbst durchgeführten Befragung von 2101 Deutschen im Jahre 2021.Abbildung 1: Histogramm der Antworten auf die unten dargestellte Frage.

Es zeigt, sich, dass sich ungefähr 56% eine Verringerung der Asylmigration wünscht. Knapp 30% sind dafür, ähnlich viele Asylbewerber wie zuvor aufzunehmen und nur etwa 16% präferieren eine vermehrte Aufnahme von Asylsuchenden. Also wünschen sich die Befragten, und somit auch die deutsche Bevölkerung, tendenziell das in Zukunft weniger Asylbewerber in Deutschland aufgenommen werden.

Dazu kommt, dass die Verringerungsbefürworter stärkere Präferenzen haben als die Erhöhungsbefürworter. Unter denen, die mehr Asylmigration fordern, wollen die meisten nur etwas mehr Asylmigration. Fast die Hälfte derjenigen, die sich weniger Aufnahme von Asylbewerber wünschen, fordern jedoch eine deutliche Verringerung. Die verstärkt noch einmal den Schluss, dass sich die Deutschen als Ganzes betrachtet eine verringerte Aufnahme von Asylbewerbern wünschen.

Des Weiteren zeigt sich, dass die deutsche Bevölkerung nicht stark polarisiert ist. Man hätte erwarten können zwei getrennte Lager vorzufinden. Ein großes Linkes Lager, welches eine Erhöhung fordert, ein rechtes Lager, welches eine Reduktion verlangt und zwischen diesen beiden Lagern, also bei „Ungefähr gleich viele“ nur eine geringe Anzahl an befragten. Dem ist nicht so. Wenn überhaupt scheint es ein Lager zu geben, welches die bisherige Aufnahmepolitik gutheißt und ein weiteres, welches eine deutliche Verringerung der Aufnahmen verlangt. Ein extremes Linkes Lager gibt es praktisch nicht. Und die Lager der Moderaten und Rechten sind durch viele Menschen verbunden, die eine Zwischenlösung fordern, also eine geringe bis moderate Verringerung der Aufnahmen. Alles in allem ist sich also ein Großteil der Bevölkerung einig über einen Wunsch nach einer Verringerung der Aufnahmen. Ein weiterer großer Teil findet dies übertrieben, ist dem aber auch nicht gänzlich abgeneigt.

Meinungen zu anderen Migranten

Nun gut, aber was denken die Deutschen über andere Einwanderer? Um das herauszufinden habe ich den Befragten erklärt, dass außerhalb des Asylsystems natürlich auch Einwanderung nach Deutschland stattfindet. Ich habe sie dann gefragt wie die Politik ihrer Meinung nach die Einwanderung dieser Gruppe in Zukunft beeinflussen sollte. Die Antwortmöglichkeiten waren die gleichen wie bei den Asylbewerbern und das Format der Frage war ebenfalls identisch.

Was denken Sie, wie haben die Deutschen nun geantwortet?

Das Ergebnis ist in Abbildung 2 erneut in Form eines Histogramms dargestellt. Wie man sehen kann, sieht es sehr anders aus als das letzte. Mehr als 40% der Befragten gaben an, dass das jetzige Einwanderungslevel in etwa beibehalten werden sollte. Auch hier gibt es Menschen, die unzufrieden mit der jetzigen Einwanderungspolitik sind. Allerdings sind es nun weniger. Noch wichtiger ist aber, dass es ähnlich viele Deutsche gibt, die einen Erhöhung dieser Einwanderung wollen wie Deutsche, die eine Verringerung befürworten. Das heißt, dass „der Durchschnittsdeutsche“ die Einwanderung außerhalb des Asylsystems weder merklich erhöhen noch reduzieren würde.

Abbildung 2: Häufigkeitsverteilung gegebener Antworten auf die unten in der Abbildung dargestellte Frage. Auf der horizontalen Achse sind die sieben verschiedene Antwortmöglichkeiten auf die Frage dargestellt. Die Höhe der grauen Balken gibt den Anteil der Befragten an der diese Antwort gegeben hat.
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf einer selbst durchgeführten Befragung von 2101 Deutschen im Jahre 2021.

Wir halten also fest: die Deutschen als Kollektiv wünschen sich eine Verringerung der Einwanderung von Asylbewerbern. Gleichzeitig, wünschen sie sich, dass die Einwanderung außerhalb des Asylsystems weder wesentlich erhöht noch verringert wird.

Was lernen wir daraus?

Die Einstellungen der Deutschen zum Thema Einwanderung sind differenzierter als häufig dargestellt. Die meisten von ihnen sind nicht pauschal gegen jede Art von Einwanderung. Sie unterscheiden sehr wohl zwischen verschiedenen Gruppen von Einwanderern. Nur bei Asylbewerber, einer ganz bestimmten Gruppe von Einwanderern, fordert eine Mehrheit eine Reduzierung der Immigration, und dies ist vielen Deutschen sehr wichtig.

Dieser Wunschsind keinesfalls vorschnell als irrational abzutun. Deutschland hat in der Vergangenheit von Einwanderung profitiert. Doch dies wurde hauptsächlich durch Einwanderung außerhalb des Asylsystems getrieben. Akademiker aus Südeuropa und die Gastarbeiter, die während des Wirtschaftswunders nach Deutschland kamen, kamen nicht als Asylbewerber. Hätte Deutschland niemals Asylbewerber aufgenommen so wären diese Menschen trotzdem nachgekommen und hätten den gleichen Beitrag zum Wohlstand der Deutschen geleistet. Würde Deutschland jetzt aufhören Asylbewerber aufzunehmen, könnten solche Menschen in Zukunft weiterhin kommen. Der Einwand, wer eine Verringerung der Einwanderung fordere verhalte sich irrational und verkenne die Leistungen, die Einwanderer erbracht haben, ist also so nicht plausibel. Denn eine allgemeine Reduzierung der Einwanderung fordert kaum jemand. Vielmehr fordert die Bevölkerung eine Reduzierung der Asylmigration bei gleichbleibender Migration außerhalb des Asylsystems.

Wer gegen eine Verringerung der Einwanderung ist, wie von der Bevölkerung gefordert muss also erklären warum es rational ist Asylbewerber aufzunehmen. Er muss zeigen, dass Asylbewerber für sich genommen einen entscheidenden Beitrag zum Wohlergehen der Deutschen beitragen. Dies ist deutlich schwieriger als zu argumentieren, dass die Deutschen von Einwanderung im Allgemeinen profitieren. Denn Asylbewerber sind im Schnitt deutlich schlechter ausgebildet als andere Einwanderer und sie kommen auch häufiger aus Regionen der Welt, die uns kulturell weiter entfernt sind, was ihre Integration erschwert.

Was für einen Beitrag Asylbewerber zum Wohl der Deutschen leisten ist eine Frage, die den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Stattdessen werde ich diese Frage in einem zukünftigen Artikel angehen. Hier möchte ich nur darauf hinweisen, dass die Meinungen der Bevölkerung nicht so irrational, undifferenziert und polarisiert sind, wie manche Politiker und Journalisten scheinbar denken. Stattdessen scheinen ihre Präferenzen plausibel und große Teile der Bevölkerung sind sich in ihren Wünschen einig. Politiker sollten sich also gut überlegen, ob sie die Meinung der Bevölkerung in dieser Frage weiterhin ignorieren.

Quellen:

Dempster, Helen, und Karen Hargrave. „Understanding public attitudes towards refugees and migrants.“ London: Overseas Development Institute & Chatham House (2017).

Hainmueller, Jens, und Hopkins, Daniel J. „Public attitudes toward immigration.“ Annual review of political science 17 (2014): 225-249.

Hamilton Alexander., Madison James., Jay John. (2009) Federalist No. 71. In: The Federalist Papers. Palgrave Macmillan, New York.

Kurbjuweit, Dirk. „Die Methode Merkel: Eine Kanzlerinnenschaft.“ Audible Originals (2021).

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Allgemein Besondere Tode und andere historische Ereignisse

Der neue Messias

Das langweiligste Fach der Welt?

Religionsunterricht. Wie oft habe ich schon in der Schule gesessen und darüber nachgedacht, wie überflüssig dieses Fach ist. Ging es euch nicht ähnlich?

Wenn ja, ist das wirklich schade. Denn heute, lange Jahre nachdem ich die Schule und den Religionsunterricht weit hinter mir gelassen habe, beginne ich mit einem anderen Blick auf das Thema zu schauen und entdecke immer mehr Geschichten von religiösen Akteuren, die es wert sind erzählt zu werden.

Der folgende Artikel erzählt die erstaunliche Geschichte einer heute völlig vergessenen messianischen Bewegung.

Zu modern für die Neuzeit

Sie beginnt am jüdischen Trauertag Tisha B’aw im Jahre 5386 jüdischer Zeitrechnung, was dem 1. August 1626 unserer Zeitrechnung entspricht. An diesem Tag erblickte Sabbatai Zwi das Licht der Welt. Als Sohn eines Geflügelhändlers aus Smyrna (heute Izmir) wurde er später zum Begründer einer messianischen Bewegung, die überall in Europa und Anatolien Anhänger finden sollte. An der Spitze dieser Bewegung stand Sabbatai selbst als Messias.

Gemessen an der großen Bedeutung, die diesem Titel in den abrahamitischen Religionen beigemessen wird, war dies ein gewagtes Unterfangen. Wie gibt man sich als „Gesalbter“, als von Gott gesandter Erlöser und Heilsbringer, als das Übel der Welt überkommender und ein neues Zeitalter einleitender Heiland zu erkennen?

Wie wir hatte auch der junge Sabbatai auf diese Frage keine konkrete Antwort. Doch im Alter von 21 Jahren konnte er sein Sendungsbewusstsein nicht länger für sich behalten. Er beschloss seinem Gefühl zu folgen und teilte sich seinem sozialen Umfeld mit.

Er berichtete von Visionen, in denen er sich als gesalbten Messias gesehen hatte. Das ist schon etwas komisch oder? Stellt euch vor einer eurer Freunde kommt mit so was zu euch. Ihr würdet ihm wohl nahelegen sich professionelle Hilfe zu suchen.

Doch war dies nicht alles.

Er sprach den Gottesnamen öffentlich laut aus und verkündete, die kommende Welt sei nahe. Da das Lautaussprechen des Gottesnamens in der jüdischen Tradition verboten war, wird er auch so Aufsehen erregt haben.

Die größte Sensation wird jedoch seine, für die damalige Zeit (und für viele heute leider immer noch) unvorstellbare, Eheschließung gewesen sein.

Wie kann man seine Ehe Mitte des 17. Jahrhunderts außergewöhnlich gestalten? Klar, man muss mit Traditionen brechen. Scheinbar unabdingbar war es damals, dass ein Ehepartner männlich und der andere weiblich sein musste. Sabbatai beschloss sich diesem Gebot zu widersetzen.

Um seinen Anspruch auf den Titel Messias zu verdeutlichen, ehelichte er in einer öffentlichen Zeremonie eine Thorarolle. So wollte er die Verbindung, die er mit JHWH eingegangen war, verdeutlichen.

Die weitreichenden Folgen dieser Offenbarung als gesandter Gottes hatte Sabbatai wohl nicht voraussehen können.

Er wurde kurzerhand aus der jüdischen Gemeinde verbannt und unter Schimpf und Schande der Stadt verwiesen. Auch in Saloniki, wo er zunächst wohlwollend empfangen wurde, fand er keine Bleibe und wurde nach weiteren „ketzerischen“ Taten der Stadt verwiesen.

Eine Frau heiraten?

Sein Weg führte Sabbatai schließlich nach Jerusalem und Ägypten, wo er für die jüdische Gemeinde Jerusalems Geld sammelte, das diese dem Sultan als Tribut zahlen musste. Die Gemeinde dort schien ihn zu akzeptieren und es sind keine allzu auffälligen oder anstößigen Taten bekannt.

Mit fortschreitendem Alter wurde die Frage nach der Ehe für Sabbatai immer relevanter.

Wie ihr euch sicherlich erinnert war seine erste Ehepartnerin ja eine Thorarolle. Im Alter von 38 entschloss er sich erneut zu heiraten – diesmal jedoch tatsächlich eine Frau.

Doch war die Hochzeit wohl auch diesmal alles andere als gewöhnlich.

Lasst uns zunächst einen Blick auf Sarah, die Braut die sich der Messias gewählt hatte, werfen.

Um ihre Herkunft und Geschichte ranken sich zahlreiche Legenden und es ist schwer Wahrheit und Fiktion voneinander zu trennen. Von den einen wird sie als Prostituierte bezeichnet, von den anderen als Jungfrau. Eines haben allerdings alle Quellen über dieses sonderbare Mädchen gemeinsam: Sie stammte aus Mittel- bzw. Osteuropa und wusste schon seit ihrer Kindheit, dass sie einst der Messias zur Frau nehmen würde.

Ob Sabbatai Gerüchte über die junge Frau, die im fernen Norden davon sprach den Messias zu heiraten, gehört und sie aus diesem Grund zu sich bestellt hat? Wir wissen es nicht.

Wie auch immer, sie scheint ihm eine bessere Partnerin als die Thorarolle gewesen zu sein. Er ließ sich nicht von ihr scheiden und heiratete auch später nicht mehr.

Sein Leben scheint sich nach der Eheschließung auch tatsächlich ein wenig beruhigt zu haben. Er reduzierte anstößige Auftritte merklich. Als er schließlich von einem jungen Gelehrten und Heilkundigen namens Nathan erfuhr, machte er sich auf den Weg zu ihm. Er hoffte, er könne das „Leiden“, als das er sein religiöses Sendungsbewusstsein mittlerweile empfand, kurieren.

Der Messias und sein Prophet

Doch was ihm der selbsternannte Prophet aus Gaza eröffnete, dürfte Sabbatais Hoffnungen auf ein „normales“ Leben gänzlich zunichte gemacht haben. Wie genau das Gespräch der beiden ausgesehen hat lässt sich nur vermuten, doch das Ergebnis legt eine, dem folgenden Dialog ähnliche, Konversation nahe.

Sabbatai: Oh weiser Nathan, ich bitte dich inständig, lasse mich an deiner Weisheit teilhaben. Unterweise mich und befreie mich von meinem Leiden.

Nathan: Unterweisen kann ich dich nicht. Und dein Leiden kenne ich nicht.

Sabbatai: Ich habe Visionen und eine Stimme sagt mir unentwegt, ich sei der Messias. Aber die Menschen erkennen mich nicht als diesen an, also muss es falsch sein.

Nathan: Von deinen Visionen kann ich dich nicht befreien. Ein solcher Versuch käme einem Sakrileg gleich. Ich würde mich direkt gegen Gott wenden.

Sabbatai: …..

Nathan: Ja, richtig gehört! Es ist die Stimme Gottes die zu dir spricht. Du bist der Messias und wirst die Menschheit in die kommende Welt führen.

Durchbruch

Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass Sabbatai nach diesem Gespräch nicht von seinen Wahnvorstellungen geheilt war. Er ließ sich 1665 von Nathan offiziell zum Messias proklamieren und begann seine Mission. Auch wenn es natürlich viele Skeptiker gab – ein wenig Skepsis ist bei solchen Ereignissen ja auch durchaus verständlich – wurde Sabbatai von einem Großteil der Juden im nahen Osten begeistert aufgenommen.

Er legte einige eindrucksvolle Auftritte in Jerusalem und Umgebung hin, die sich schnell in ganz Vorderasien und in Europa verbreiteten. Es ist leicht sich vorzustellen, dass die Geschichten dabei von mal zu mal immer fantasievoller wurden.

Es hieß die Stämme Israels wären zurückgekehrt und hätten unter der Führung des Messias Ländereien im Nahen Osten zurückerobert. Sabbatai selbst ernannte Könige, die die Welt als seine Stellvertreter regieren sollten.

So stellten sich Sabbatais Anhänger in Europa seine Herrschaft im Heiligen Land vor. Das Bild stammt aus der in Amsterdam veröffentlichten jüdischen Zeitung „Tikkun“ aus dem Jahre 1666.

Erst einmal in Europa angekommen, klangen die Taten des selbsternannten Messias wohl tatsächlich wie Wunder, die nur mit Gottes Hilfe vollbracht werden konnten.

Wie sehr die jüdische Bevölkerung in Europa diesen Gerüchten glaubte, zeigt das folgende Beispiel:

Samuel b. Meir, der Bruder von Sahra (Sabbatais Ehefrau), arbeitete in Amsterdam in einer Tabakfabrik. Von dort aus machte er sich 1666 auf den Weg zu seinem Schwager in Jerusalem – im 17. Jahrhundert ein langer und beschwerlicher Weg. Er hatte die bescheidene Hoffnung dieser würde ihn zu einem mächtigen Herzog im neuen Reich ernennen. Ob seine Hoffnungen erfüllt wurden werden wir später noch erfahren.

Was wohl ebenfalls zur Verbreitung der Bewegung um Sabbatai geführt haben dürfte ist die missliche Lage in der sich die jüdische Bevölkerung Europas befand. Im 30 jährigen Krieg (1618-1648) war es bereits vielfach zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung im Heiligen römischen Reich deutscher Nation gekommen und kurz darauf führte der Chmelnicki-Aufstand in der Ukraine 1648 zu gewaltsamen Übergriffen gegen die Juden Osteuropas.

Kein Wunder also, dass es die jüdische Bevölkerung in Europa nach einem Erlöser dürstete, den viele in dem jungen Sabbatai aus Smyrna sahen. Seine Anhängerschaft wuchs überall wo es Juden gab.

Es schien, als würden sich die Prophezeiungen von Nathan aus Gaza erfüllen. Es sah wirklich so aus, als wäre der Messias hinab auf die Erde gestiegen um ein neues Zeitalter einzuleiten.

Der Messias und der Sultan

In seinem Sendungsbewusstsein bestärkt, machte sich Sabbatai also von Jerusalem nach Konstantinopel auf, dem Zentrum der europäischen Welt. Dort angekommen wollte er seine Anhängerschaft vervielfachen.

Doch dazu sollte es gar nicht erst kommen.

Dem türkischen Sultan scheint die ganze Messias-Geschichte schließlich doch etwas zu viel geworden zu sein und so entschloss er sich, Sabbatai verhaften zu lassen. Töten wollte er ihn jedoch nicht. Er wusste, dass ihn das in den Augen seiner Anhänger zum Märtyrer machen würde und dies zu einer Radikalisierung der Bewegung führen könnte.

Also stellte er den Messias vor die Wahl. Konversion zum Islam oder ein Beweis für seine Gotteskraft.

Jetzt fragt sich der ein oder andere vielleicht: Wie soll man beweisen, dass man von Gott auserwählt ist, dass man von ihm mit gottgleicher Macht ausgestattet wurde?

Der Sultan hatte da eine Idee. Sie war nicht weiter kompliziert und schien doch ihren Zweck zu erfüllen.

„Wie wäre es“ sagte er „wenn wir den Messias an einen Pfahl binden und ihn wahllos mit Pfeilen beschießen“. Er schmunzelte. „Wenn Gottes Hand die Pfeile abwehrt und sich der Allmächtige so zu erkennen gibt, werde ich persönlich vor seinem Gesandten auf die Knie sinken. Sollten ihn die Pfeile aber durchbohren und er sterben, so sei er als Scharlatan entlarvt.“

Für welche Option hättet ihr euch wohl entschieden?

Wenn ihr nicht zu 100 Prozent davon überzeugt gewesen wärt der Messias zu sein wahrscheinlich für die Konversion zum Islam oder?

Doch was tat der Held unserer Geschichte?

Richtig geraten. Er entschied sich ebenfalls für das Leben und konvertierte zum Islam. Ein bisschen gesunder Menschenverstand war ihm wohl trotz allem noch geblieben.

Für seine Anhänger war dies jedoch eine Enttäuschung ohne Gleichen. Der Messias selbst fällt vom rechtmäßigen Glauben ab und nimmt die Religion des Unterdrückers an? Das kann nicht sein.

Samuel b. Meir hörte von der Konversion des Messias und kehrte auf seinem Weg ins Heilige Land um. Schamerfüllt kehrte er in seine Heimatstadt Amsterdam zurück und widmete sich wieder dem Tabakgeschäft. Ein Herzog ist er nie geworden.

So verlor die Bewegung an Anhängern und Attraktivität für neuen Zulauf. Doch einige hielten an der Idee Sabbatai sei der Messias fest. Sie legten die Konversion zum Islam als notwendigen Schritt aus und trafen sich im Geheimen, um über das mysteriöse Verhalten des Messias zu philosophieren.

Aus dieser Tradition gingen später weitere selbsternannte Erlöser der Menschheit hervor, die ebenfalls zum Islam oder zum Christentum konvertierten. Der letzte dieser Hochstapler war Jakob Frank, der sowohl zum Islam als auch zum Christentum konvertierte.

Er begründete diese Konversionen mit mystischen Argumenten und es gelang ihm einen großen Teil der Juden Europas von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen.

Wie hat er das geschafft?

Das erfahrt ihr in einem weiteren Text.

Quellen

Scholem, Gershom. Sabbatai Sevi The Mystical Messiah 1626-1676. Princeton 1973.

Petzel, Paul. Sabbatai Zwi – ein Bruder des Messias Jesus? Anmerkungen und Fragen zu einer schwierigen Verwandschaft. In: Zeitschrift für katholische Theologie, 2005, Vol. 127, No. 4, S. 415-448.

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Allgemein Weit verbreitete Irrtümer

Eine Definition von Intelligenz

Auch wenn du bestimmt mega intelligent bist, kennst du wahrscheinlich jemanden, der noch schlauer ist als du.

Oder etwa nicht?

Ich kenne da einige. Mitschüler, die den Unterrichtsstoff besser und schneller verstanden haben, andere Doktoranden, die cleverere Forschung machen und manchmal treffe ich selbst beim Feiern gehen Menschen, die ihre Argumente dreimal erklären müssen, bevor ich sie verstehe.

Gut, der letzte Punkt lässt sich vielleicht auch durch übermäßigen Alkoholkonsum erklären.

Jetzt fragst du dich vielleicht: was genau meinst du mit Intelligenz?

Ich will ehrlich sein. Ich kann diese Frage nicht sehr präzise beantworten. Grob gesprochen meine ich damit die Auffassungsgabe, die Geschwindigkeit, mit der jemand Informationen aufnehmen, kombinieren und daraus korrekte logische Schlüsse ableiten kann.

Klingt nicht sehr präzise, oder? Es wäre sehr schwer Intelligenz auf Basis dieser Definition zu messen.

Intelligenz messbar zu machen ist jedoch sehr wichtig.

Immer wieder untersuchen Forscher Zusammenhänge zwischen Intelligenz und allen möglichen anderen Größen wie etwa der Berufswahl, dem Einkommen oder der Bildung.

Doch bevor man solche Zusammenhänge messen kann, muss man natürlich erst die einzelnen Größen messen.

Natürlich ist dies Wissenschaftlern schon lange bewusst. Es gibt schon lange präzise und plausible Definitionen von Intelligenz die Messbarkeit ermöglichen.

Diese Definition ist leider in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt.

Spoiler: Es ist nicht der IQ!

In diesem Artikel möchte ich euch erklären, wie Wissenschaftler Intelligenz definieren und warum.

Der g-Faktor

Falls du jetzt gedacht hast ich komme dir mit IQ – weit gefehlt. IQ als Maß für Intelligenz ist veraltet (Plomin und von Stumm 2018).

In der Forschung nutzt man stattdessen den Allgemeinen Faktor der Intelligenz, auch g-Faktor oder g genannt.

Während IQ-Tests nur eine bestimmte Art des logischen Denkens messen, beinhaltet der g-Faktor sehr viele verschiedene Arten von Intelligenz. Dazu gehören neben logischem Denken räumliches Denken, verbale Intelligenz, emotionale Intelligenz und viele mehr.

Diese Arten von Intelligenz erscheinen dir vielleicht verschieden. Doch Menschen, die in einer Art hohe Werte erzielen, sind meistens auch in anderen Arten der Intelligenz sehr stark (Plomin und von Stumm 2018).

Das Leben scheint hier also nicht besonders fair zu sein. Ausgleichende Gerechtigkeit – ich bin besser im logischen Denken, dafür kannst du besser räumlich denken – gibt es in der Realität eher weniger. Einige Menschen sind einfach in allen Arten der Intelligenz besser als andere.

Intelligenzforscher gehen daher davon aus, dass es so etwas wie Allgemeine Intelligenz gibt, die den Kern all dieser verschiedenen Arten von Intelligenz darstellt.

Diese Allgemeine Intelligenz versucht man aus den Testergebnissen von verschiedenen Intelligenztests zu schätzen. Zu diesem Zweck werden alle Informationen aus den verschiedenen Tests kombiniert. Alle Testergebnisse gehen also mit in die Gesamtintelligenz ein.

Allerdings liefern manche Intelligenztests präzisere Ergebnisse als andere. Beim Zusammenrechnen werden daher die präziser gemessenen Tests stärker berücksichtigt.

Dies kann man beispielsweise mit einer Principal Component Analyse (PCA) machen. Einzelheiten dazu findet ihr hier. Obwohl das Prinzip nicht super kompliziert ist, würde eine nähere Beschreibung der PCA hier den Rahmen sprengen.

Ist dieses Maß für Intelligenz sinnvoll?

Gut, jetzt wissen wir, wie man Allgemeine Intelligenz berechnet.

Aber wie aussagekräftig ist dieses Maß?

Die allermeisten Forscher halten dieses Maß für extrem aussagekräftig. Dass Intelligenzforscher das so sehen ist klar. Es ist ja ihr Job zuverlässige Maße für Intelligenz zu finden. Aber auch in anderen Disziplinen wie zum Beispiel der Psychologie oder der Ökonomie gilt der g-Faktor als aussagekräftig.

Dafür gibt es vor allem zwei Gründe.

Erstens ist g besser als jede andere Eigenschaft geeignet um wichtige Größen wie Bildung (Deary et al. 2007), Berufswahl (Strenze 2007) und selbst Gesundheit (Calvin et al. 2017) vorher zu sagen.

Was bedeutet das?

Sagen wir, du lernst zwei Kinder kennen. Sie sind beide 16 Jahre alt. Du willst vorhersagen was aus ihnen wird. Welche Bildungsabschlüsse werden sie erreichen? Wie viel werden sie verdienen? Wie lange werden sie leben?

Du darfst genau eine Eigenschaft der beiden messen und darauf deine Vorhersage gründen.

Welche Eigenschaft solltest du messen, um die beste Vorhersage zu ermöglichen?

Ambitionen? Selbstbewusstsein? Sorgfalt? Sozialverhalten? Nein!

Du solltest den g-Faktor messen. Er wird dir die beste (und eine sehr gute) Vorhersagekraft ermöglichen. Nur dadurch, dass du g misst, kannst du recht gut vorhersagen wer erfolgreich sein wird und wer nicht.

Das bedeutet natürlich nicht, dass andere Faktoren keine Rolle spielen. Ambitionen im Kindesalter beispielsweise weisen ebenfalls einen engen Zusammenhang mit Einkommen und sozialem Status im Erwachsenenalter auf.

Jedoch weist keine andere Eigenschaft einen so engen Zusammenhang mit späterem Erfolg auf wie der g-Faktor.

Zweitens ist der g-Faktor ein sehr stabiles Maß. Menschen, die im Kindesalter ein relativ hohes g haben, schneiden auch als Erwachsene gut ab. Besonders ab der Pubertät ändert sich die Reihenfolge zwischen Menschen bezüglich g eher selten. Diejenigen, die mit 16 die höchste allgemeine Intelligenz haben, haben auch noch mit 90 Jahren den höchsten g-Faktor (Deary et al. 2013).

Dies legt auch nahe, dass g wohl ohne große Messfehler gemessen werden kann. Denn diese Fehler sollten nicht stabil über die Zeit sein.

Der g-Faktor über die Lebensspanne

Die eben diskutierte Stabilität bezieht sich nur auf Unterschiede zwischen Menschen. Die Unterschiede im g-Faktor zwischen ähnlich alten Personen verändern sich über die Zeit kaum.

Aber die Allgemeine Intelligenz eines einzelnen Menschen verändert sich über die Zeit sehr wohl. Die meisten Menschen haben ihren höchsten g-Faktor im jungen Erwachsenenalter. Danach nimmt g stetig ab.

So gesehen werden Menschen im Alter immer dümmer. Aber gut, dafür nimmt auf der anderen Seite mit der Erfahrung auch das Wissen zu.

Zusammenfassung

Natürlich hat jeder Mensch eine etwas andere Vorstellung davon, was Intelligenz ist. Manche denken vielleicht, dass sprachliche Intelligenz ein Teil von Intelligenz sein sollte während andere meinen, dass Intelligenz nichts anderes sei als logisches Denken.

Dies ist aber kein großes Problem. Denn wie wir gesehen haben, sind verschiedene Formen von Intelligenz stark miteinander korreliert; Menschen, die in einem Bereich von Intelligenz besonders gut abschneiden, sind auch in anderen Feldern sehr stark.

Die moderne Intelligenzforschung bezieht daher so viele Formen von Intelligenz wie möglich in ihre Analyse mit ein und kombiniert all diese Informationen.

Das Ergebnis ist der g-Faktor, der auch als „Allgemeine Intelligenz“ bezeichnet wird.

Mit ihm lassen sich überraschend gut wichtige Dinge wie spätere Bildungsabschlüsse oder die Berufswahl recht gut (aber natürlich nicht perfekt) vorhersagen.

Obwohl Fälle erfolgreicher intelligenter Menschen deutlich häufiger sind, sind die Fälle, in denen eine frühe, auf dem g-Faktor basierende, Prognose zu komplett falschen Ergebnissen geführt hätte, viel interessanter.

Das krasseste Beispiel solcher Art findest du ausführlich im folgenden Artikel beschrieben; Der letzte Brief eines Genies

Viel Spaß beim Lesen!

Quellen

Calvin, Catherine M., et al. „Childhood intelligence in relation to major causes of death in 68 year follow-up: prospective population study.“ bmj 357 (2017).

Deary, Ian J., et al. „Intelligence and educational achievement.“ Intelligence 35.1 (2007): 13-21.

Deary, Ian J., Alison Pattie, and John M. Starr. „The stability of intelligence from age 11 to age 90 years: the Lothian birth cohort of 1921.“ Psychological science 24.12 (2013): 2361-2368.

Plomin, Robert, and Sophie von Stumm. „The new genetics of intelligence.“ Nature Reviews Genetics 19.3 (2018): 148.

Strenze, Tarmo. „Intelligence and socioeconomic success: A meta-analytic review of longitudinal research.“ Intelligence 35.5 (2007): 401-426.

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Allgemein Besondere Tode und andere historische Ereignisse

Nichts für Warmduscher

Das tägliche Bad. Es ist heutzutage kaum aus unserem Alltag wegzudenken. Ob es genutzt wird um morgens frisch in den Tag zu starten oder nach einem langen Tag der Arbeit zur Erholung von den Strapazen des Tages dient.

Das Baden ist allerdings keines Falls eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Bereits vor über 5000 Jahren badeten sich die babylonischen Könige. Auch bei den Römern und Griechen gehörte das regelmäßige Bad zum Alltag. So ist z.B. überliefert, dass Archimedes, nachdem er beim Einsteigen in eine Badewanne das Archimedische Prinzip entdeckt hatte, nackt und „Heureka!“ rufend durch die Straßen der Stadt lief. Im 19. Jahrhundert entstanden schließlich erste Modelle moderner Badewannen aus verzinktem Eisenblech.

Der Arzt und sein Hautleiden

In einer solchen Wanne pflegte auch der französische Verleger, Arzt und Revolutionär Jean Paul Marat zu baden. Er litt unter einer Hautkrankheit und nahm regelmäßig lange Bäder um sich Linderung von den Schmerzen und Juckreizen zu verschaffen. Diese Bäder nutzte er unter anderem auch um seine Schriften zu verfassen.

Dazu gehörten nicht nur einschlägige Artikel, die er in seiner Zeitschrift „L’Ami du peuple“ (Freund des Volkes) veröffentlichte, sondern auch umfangreichere politische und naturwissenschaftliche Werke. Sein in englischer Sprache verfasstes Traktat „The Chains of Slavery“ stellt ein politisches Werk dar, das auf der Grundanlage beruht, dass jeder Souverän das absolute Ziel hat, seinen eigenen Machtbereich zu erweitern. Er fordert das Volk dazu auf sich als oberstes Ziel zu setzen, den Herrscher in seiner Macht einzuschränken.

Das kühle, mit Ölen und heilenden Kräutern versetzte Wasser und die Abwesenheit der sonst so lästigen Schmerzen, müssen Marat ein besonderes Gefühl der Entspannung und Geborgenheit gegeben haben.

Deswegen sollten sie Ihre Kinder nicht unbeaufsichtigt in der Badewanne lassen

Doch die Geschichte lehrt uns, dass man sich selbst in einer mit warmem Wasser und Seife gefüllten Wanne im eigenen Haus besser nicht zu sicher fühlen sollte. Als Marat am 13. Juli 1793, einen Tag vor dem 4. Jahrestag des Sturmes auf die Bastille, sein Bad nahm, und wie üblich an der nächsten Ausgabe seiner Zeitschrift „L’Ami du peuple“ arbeitete, betrat eine junge Frau sein Zimmer.

Bei dieser Frau handelte es sich um die damals 25 jährige Charlotte Corday. Sie gehörte dem Lager der moderateren Girondisten an und war angeblich gekommen, um bei Marat einige ihrer Parteimitglieder zu denunzieren. Doch in Wahrheit hegte sie gänzlich andere Pläne.

Neben der Liste mit den Namen der „Verräter“ brachte sie ein langes, scharfes Küchenmesser mit. Nach einem kurzen Gespräch stach sie dem Badenden die 20 Zentimeter lange Klinge tief in die Brust und beendete damit sein Leben.

Wenige Monate nach der Ermordung des Marat malte Jaques-Luis David sein berühmtes Gemälde „Der Tod des Marat“

Als sie sich vom Tatort entfernte wurde sie sogleich von einem Redakteur des „L’Ami du peuple“ niedergeschlagen und festgenommen. Sie wurde am 17. Juli 1793, nach einem 4 tägigen Prozess in Paris, guillotiniert.

Eigentlich hatte sie ihre tat in aller Öffentlichkeit durchführen wollen und damit gerechnet sogleich von der wütenden Menge in Stücke gerissen zu werden. So erging es ein Jahrhundert zuvor übrigens den Brüdern Cornelis und Johan de Witt, die 1672 in Den Haag von aufgebrachten Bürgern gelyncht wurden.

Das Motiv

Corday dachte, dass sie mit der Ermordung des Verlegers die Schreckensherrschaft der Jakobiner beenden würde. Damit stand sie vermutlich nicht ganz allein. Vielen moderaten Revolutionären waren Marat und seine radikalen Vorstellungen ein Dorn im Auge. Marat selbst war sich dessen wohl bewusst gewesen und hatte eine fast schon paranoide Vorsicht entwickelt.

Im entscheidenden Moment war er jedoch nicht in der Lage die Gefahr, die von Charlotte Corday ausging, zu erkennen.

Vor einem weiteren Feind hätte auch die schärfste Vorsicht nicht helfen können. Marat litt an seborrhoischer Dermatitis, einer tödlichen, damals nicht behandelbaren Hautkrankheit. Dem spanischen Genetiker Lalueza-Fox zufolge kam Corday der Krankheit wohl nur um wenige Tage oder Wochen zuvor.

Von Mördern, Opfern und Helden

Auf diesem Gemälde von Paul Jacques Aimé Baudry von 1858 steht (im Gegensatz zu Davids Gemälde) die Mörderin ganz im Mittelpunkt.

Sowohl die Mörderin als auch der Ermordete wurden nach ihrem Tod zu Märtyrern erklärt. Während Marat in den revolutionären Kreisen Frankreichs zum Nationalhelden wurde, wurde Corday zur Galionsfigur konterrevolutionärer Gruppierungen. Selbst für Aleksander Puschkin, der in seinem Gedicht „Der Dolch“ die Tyrannenmörder von Brutus und Cassius bis zu Karl Ludwig Sand verherrlicht, ist Charlotte Corday die Heldin, die die Welt vom „Tyrannen“ Marat befreit hat.

Quellen

Conner, Clifford D.: Jean-Paul Marat. Tribune of the French Revolution. 2012.

Heifer, Harold: A Bathtub Chronicle. In: Challenge. Vol. 2, No. 6, 1954, S. 36-68.

Gottschalk, Louis: The Life of Jean Paul Marat. Kansas 1923.

Marat, Jean-Paul: The Chains of Slavery. London 1774.

Taschwer, Klaus: Rätsel um die schlimmen Leiden des Jean-Paul Marat womöglich gelöst. Der Standard 2019.

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Allgemein Mega-Trends

Wird die Welt friedlicher?

Hast du dir eigentlich schon einmal überlegt was du tun würdest, falls morgen eine feindliche Armee in Deutschland einmarschieren würde?

Ein Freund hat mir einmal in der Schule erzählt, dass die Hälfte aller Schüler schon einmal darüber während des Unterrichts nachgedacht hat. Valide Quellen schien er aber nicht zu haben.

Die Wenigsten von uns gehen wohl ernsthaft davon aus, dass wir überfallen werden könnten. Es ist 75 Jahre her, dass feindliche Truppen auf deutschem Boden standen. Die älteste Person, dich ich je kennen gelernt habe (mein Opa), war 10 als der Krieg endete. Krieg ist mir, und vermutlich auch den meisten von euch, fern.

Ist dies ein deutsches Phänomen, oder gilt es allgemeiner? Wird die Welt friedlicher? Steuern wir auf eine Welt ohne Krieg zu?

Diese Fragen versuche ich im Folgenden zu beantworten. Zu diesem Zweck schauen wir uns natürlich zunächst Daten über Kriege an.

Daten

Woher bekommt man Daten über Kriege? Es gibt verschiedene Datensätze, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Manche decken bestimmte Gebiete sehr detailliert ab, andere bieten einen groben Überblick über die gesamte Welt, in wieder anderen wird genau zwischen verschiedenen Konfliktarten unterschieden und so weiter.

Für diesen Artikel ist eine lange Zeitreihe wichtig. Ein Datensatz, der besonders weit in die Vergangenheit zurückreicht, ist der Conflict Catalog von Peter Brecke. Die Daten kannst du selbst hier herunterladen.

Obwohl sehr viel Arbeit in die Erstellung dieses Datensatzes geflossen ist, sind die Daten nicht perfekt. Dies liegt zum einen daran, dass wir von vielen Kriegen in der Vergangenheit wahrscheinlich nicht wissen. Zum anderen sind ältere Quellen häufig sehr unzuverlässig was die Opferzahl betrifft. Häufig wurde hier aus politischen Gründen übertrieben.

Diese Ungenauigkeiten sind außerhalb Europas deutlich größer. Aus diesem Grund liegt der Fokus dieser Analyse auf Europa. Dies erhöht die Datenqualität deutlich und erlaubt es uns auch weiter in die Vergangenheit zu reisen.

Abgesehen vom Conflict Catalog nutzen wir auch Bevölkerungsdaten. Diese beziehen wir aus dem HYDE (History Database of the Global Environment) Datensatz. Das ist ein riesiger Datensatz, in den Jahrzehnte der Bevölkerungsforschung kulminieren. Die Daten findet ihr hier.

Weniger Kriege

Die offensichtlichste Frage zuerst: gibt es jetzt mehr oder weniger Kriege als früher? Das ist einfach zu beantworten.

Die folgende Graphik zeigt die Anzahl der Kriege je Jahrhundert. Wir betrachten 11 Jahrhunderte, beginnend im 10.

Abbildung 1: Die Anzahl der Kriege in Europa je Jahrhundert, vom 10. bis zum 20. Jahrhundert.

Wie man sieht, gab es im 10. Jahrhundert in Europa etwa 180 Kriege. Ganz schön viel, vor allem im Vergleich zum 20. Jahrhundert. Da gab es nur ca. 75 Kriege.

Wenn wir uns den Trend ansehen bemerken wir, dass die Anzahl der Kriege vom 10. bis zum 13. Jahrhundert gestiegen ist.

Von dort an wurden es immer weniger. Im 18. Jahrhundert betrug die Anzahl der Kriege nur ein Sechstel der Anzahl im 13. Jahrhundert.

Im 19. Jahrhundert waren es dann wieder mehr. Die Anzahl der Kriege sank im 20. Jahrhundert aber wieder, wobei es den absoluten Tiefstand des 18. nicht unterbot.

Mehr Tote

Irgendetwas ist komisch an dem oben dargestellten Trend. Nach Abbildung 1 würde man vermuten, dass die Welt immer friedlicher wird und insbesondere das 20. Jahrhundert als besonders friedlich in die europäische Geschichte eingegangen ist.

Würde man jetzt nicht so vermuten, oder? Das 20. Jahrhundert hat schließlich durch die beiden Weltkriege deutliche mehr Todesopfer gefordert als jedes andere Jahrhundert.

Dies wird auch in der folgenden Graphik deutlich. Dort zeige ich euch, für jedes Jahrhundert, wie viele Menschen insgesamt durch Kriege zu Tode kamen (in absoluten Zahlen).

Die Zahl der Todesopfer steigt mit der Zeit rasant an. Die meisten toten forderten, wie erwartet, die Kriege des 20. Jahrhunderts, fast 30 Millionen!

Abbildung 2: Die absolute Anzahl der Kriegstoten in Europa je Jahrhundert, vom 10. bis um 20. Jahrhundert.

Obwohl mit der Zeit tendenziell immer mehr Menschen durch Kriege sterben, ist der Zusammenhang nicht monoton. Im 17. Jahrhundert starben fast doppelt so viele Menschen durch Kriege wie im 18. Jahrhundert.

Dies ist vor allem auf den verheerenden 30-jährigen Krieg zurück zu führen, der gerade in Deutschland ganze Siedlungsgebiete leerfegte.

Natürlich ist dieser Trend zum Teil dadurch zu erklären, dass die Bevölkerung Europas mit der Zeit gewachsen ist. In der folgenden Abbildung zeige ich euch daher wie viele Menschen durch Krieg starben relativ zur Bevölkerung am Ende des Jahrhunderts.

Abbildung 3: Die relative Anzahl der Kriegstoten in Europa (zur Bevölkerung am Ende des Jahrhunderts) je Jahrhundert, vom 10. bis um 20. Jahrhundert.

Der letzte Punkt in Abbildung 3 sagt uns zum Beispiel, dass die Anzahl der gesamten Kriegsopfer im 20. Jahrhundert etwa 4% der Einwohnerzahl im Jahre 2000 betrug. Ganz schön viel.

Aber lange nicht so viel wie im 17. Jahrhundert. Dieses war so gesehen das gewalttätigste Jahrhundert für Europa. In keinem anderen Jahrhundert war die Wahrscheinlichkeit in einem Krieg zu sterben so hoch wie damals.

Wenn wir uns den gesamten Trendverlauf ansehen, scheint das 17. Jahrhundert jedoch auch ein Ausreißer zu sein. Im Allgemeinen steigt die Kurve an. Mit fortschreitender Zeit stirbt ein immer größerer Anteil der Bevölkerung durch Kriege.

Heftigere Kriege

Wir haben jetzt gesehen, dass es mit der Zeit immer weniger Kriege in Europa gibt, aber gleichzeitig ein immer größerer Anteil der Bevölkerung durch Kriege stirbt.

Die offensichtliche Folgerung ist, dass Kriege mit der Zeit im Durchschnitt immer mehr Todesopfer fordern.

Der Vollständigkeit halber zeige ich euch genau diese Größe noch einmal in Abbildung 4. Für jedes Jahrhundert ist dort die absolute Anzahl der Todesopfer dargestellt, die ein Krieg damals im Durchschnitt gefordert hat.

Abbildung 4: Die durchschnittliche Anzahl der Kriegstoten in Europa pro Krieg, je Jahrhundert, vom 10. bis um 20. Jahrhundert.

Wie erwartet steigt die Kurve rasant an. Mit fortschreitender Zeit fordert ein einzelner Krieg immer mehr tote. Relativ zur Bevölkerung gesehen sieht der Trend wieder ähnlich aus.

Wie allgemein ist dieser Trend?

Gerne würden wir einen ähnlichen Trend für einen längeren Zeitraum und andere Weltregionen zeigen. Aber wie gesagt, die Datenlage ist dort schlechter.

Können wir vielleicht auch so etwas darüber aussagen, wie diese Trends aussehen?

Ich denke schon.

Lass uns zu diesem Zweck Krieg einmal sehr allgemein definieren. Ich sage, ein Krieg ist ein Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Personen, von denen mindestens eine Gewalt einsetzt, um einer anderen Person körperlichen Schaden zuzufügen.

Dann ist es auch ein Krieg wenn ich meinen kleinen Bruder verkloppe um ihm die Fernbedienung wegzunehmen (habe ich natürlich nie gemacht 😉 ).

So gesehen ist die Natur voll von Kriegen. Ein Löwe, der eine Gazelle jagt, ist genauso ein kleiner Krieg wie auch ein Revierkampf zwischen zwei Wolfsrudeln.

In diesen Kriegen gibt es nur eben wenige Teilnehmer und meistens enden sie mit sehr wenigen toten (Löwen sind tatsächlich nicht sehr oft erfolgreich bei ihrer Jagd).

Ihr seht schon, wohin es führt. Wir hatten gesehen, dass je weiter wir in die Vergangenheit reisten, Kriege immer häufiger und wenige heftig wurden. Was ich gerade beschreibe ist so gesehen nur der Extremfall unseres Trends.

Jagden und sonstiges Messen finden in der Tierwelt andauernd statt und häufig tragen beide Parteien nur leichte Verletzungen davon. Denn entgegen der landläufigen Meinung sind die meisten Jäger sehr risikoavers und scheuen ernste Kämpfe. Schwerwiegende Verletzungen würden schließlich dazu führen, dass sie in Zukunft nicht mehr effizient jagen können, was ihren sicheren Tod bedeuten würde.

Von Affen und Atomwaffen

Wie gesagt sind Daten für die Frühgeschichte rar. Eine statistische Analyse können wir daher nicht durchführen. Eine beschreibende aber sehr wohl.

Und das machen wir in den folgenden drei Abschnitten.

Affen

Der Gombe National Park in Tansania ist wunderschön. Das dichte Grün bietet allen Bewohnern des Dschungels Nahrung und Schutz vor der prallen Sonne. Zu den Bewohnern dieses Paradieses gehört auch eine ganze Menge Schimpansen.

Und vor 35 Jahren auch ein paar Menschen. Denn damals war der Gombe noch kein Nationalpark und beherbergte ein Forschungszentrum, das Gombe Stream Research Centre.

Die Direktorin dieses Forschungszentrums war Jane Goodall. Als waschechter Hippie glaubte sie daran, dass Tiere, und insbesondere ihre geliebten Schimpansen, friedliche Wesen seien und nur der Mensch Gewalt, Krieg und Verderben in die Welt trage.

Doch am 22. Januar 1974 begann er, der Gombe Schimpansenkrieg. Mehr als vier Jahre sollte er dauern und viele Schimpansenleben kosten. Ihr glaubt mir nicht? Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel darüber: hier klicken.

Jane musste nun also mit ansehen wie sich ihre Schützlinge gegenseitig zerfleischten. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Tagebuch niedergeschrieben und später veröffentlicht.

Ich übersetze:

Ich habe viele Jahre gebraucht, um mein neues Wissen verdauen zu können. Oft, wenn ich in der Nacht aufwachte, kamen mir grausame Bilder in den Sinn. Satan (einer der Affen), der mit seiner Hand eine Wunde direkt unter dem Kinn von Sniff aufdrückt, um sein Blut trinken zu können. Der alte Rodolf, der sonst immer so liebevoll war, aufrecht stehend, um einen riesigen Stein auf Godi zu werfen, der mit dem Gesicht nach unten auf der Erde liegt. Jomeo, der Dé die Haut von den Oberschenkeln reißt. Figan, der immer und immer wieder auf den verwundeten, zitternden Körper von Goliath einschlägt, obwohl dieser sein Idol aus Kindheitstagen gewesen war.

Andere Forscher glaubten ihr nicht, als sie von den Vorfällen berichtete. Damals ging man davon aus, Menschen seien die einzige Spezies die Kriege führen würde.

Einige Forscher behaupteten schließlich, Jane hätte die Schimpansen zum Krieg aufgestachelt. Schon verrückt auf was für Ideen Menschen kommen, um ihre Grundannahmen nicht verwerfen zu müssen.

Spätere Untersuchungen ergaben aber, dass ihre Beobachtungen keineswegs ungewöhnlich waren. Krieg ist unter Schimpansen (und anderen Affen) weit verbreitet.

Typischerweise tragen die Männchen verschiedener Gruppen (die meist nur 5-20 Tiere umfassen) gewaltsame Kämpfe aus. Die siegreiche Gruppe bekommt entweder das Revier oder die Weibchen (oder beides) der Verlierer.

Anthropologen haben festgestellt, dass es diesbezüglich erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Schimpansengruppen und Gangs gibt (hier mehr dazu).

Wie euch vielleicht aufgefallen ist, passt dieser Befund perfekt in unsere Theorie. Um herauszufinden, wie Krieg bei Affen aussieht hätten wir einfach den Trend extrapoliert. Die Vorhersage ist, dass Kriege bei Affen häufig sind aber relativ wenige Opfer fordern. Diese Vorhersagen werden von der Evidenz bestätigt.

Naturvölker

Unsere affenähnlichen Vorfahren weihen nun wirklich sehr lange nicht mehr unter uns. Wie sieht es mit weniger weit entfernten Vorfahren aus?

Naturvölker gibt es noch immer. Nehmen wir mal an, dass unsere Naturvölkervorfahren ähnlich gelebt haben, wie heute noch existierende Naturvölker. Dann können wir aus dem Verhalten heute existierender Naturvölker Rückschlüsse auf unsere eigene Vergangenheit ziehen.

In der Tat passen die Befunde perfekt in unsere Theorie. Die Wissenschaftler Douglas Fry und Patrik Söderberg haben untersucht wie häufig und heftig Kriege in Naturvölkern sind. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass kleine Akte von Gewalt sehr häufig sind, größere Kriege mit vielen Toten jedoch nicht.

Atomwaffen

Nun haben wir gerade die Trends in die Vergangenheit extrapoliert. Was passiert, wenn wir in die Zukunft extrapolieren? Da würden wir erwarten, dass Kriege sehr selten sind, aber dafür extrem zerstörerisch, falls sie doch stattfinden.

Na, klingelts?

Der kalte Krieg ist kalt geblieben, obwohl sich zwei feindlich gesonnenen Mächte für 45 Jahre gegenüberstanden. In der Vergangenheit wäre der Krieg vermutlich heiß geworden. Doch diesmal gab es ein Gleichgewicht des Schreckens, in dem beide Parteien vor einem Angriff zurückschreckten, denn sie fürchteten die totale Vernichtung.

So hatten wir keinen einzigen wirklichen Krieg zwischen Großmächten, wo wir früher mehrere gehabt hätten. Doch keinesfalls kann man davon ausgehen, dass das Gleichgewicht des Schreckens immer ein Gleichgewicht bleiben wird. Es gab einige Momente im Kalten Krieg, an dem dieser ganz schön warm geworden ist (z.B. die Kuba-Krise).

Wenn sich in Zukunft andere Atommächte messen, kann der Konflikt nach wie vor eskalieren. Und falls das passiert, wird die Anzahl der Toten alles Bekannte in den Schatten stellen.

Wenn wir in die Zukunft schauen, scheint unsere Theorie also auch Sinn zu ergeben.

Wieso?

Wir haben zwei Mega-Trends beobachtet. 1) Kriege in Europa werden immer seltener. 2) Kriege in Europa werden immer heftiger.

Aber warum ist das so?

Ich werde nun ein paar potentielle Erklärungen darstellen. Welche findet ihr am plausibelsten? Oder denkt ihr, ich habe etwas vergessen? Schreibt es doch gerne in die Kommentare. 🙂

Die ersten zwei Erklärungen sind eng miteinander verbunden.

Einerseits haben Menschen mit der Zeit immer bessere Waffen entwickelt und mit denen kann man mehr Menschen töten. Auf der anderen Seite wurden auch bessere Verteidigungswerkzeuge erfunden, doch vermutlich überwiegt der Waffeneffekt. Gegen manche Waffen, wie Interkontinentalraketen, kann man sich schlecht verteidigen.

Durch diese erhöhte Letalität steigt direkt die Heftigkeit des Krieges. Entscheidungsträger wissen um diese erhöhte Heftigkeit, wenn sie sich überlegen, ob sie einen Krieg beginnen wollen. Daher sind sie vorsichtiger und starten Kriege seltener. Somit erklärt die Theorie auch, warum Kriege immer seltener vorkommen.

Dies erklärt auch, wieso Tiere häufiger „Kriege“ führen und wieso diese weniger heftig sind. Die wenigsten Tiere kämpfen mit Waffen (Affen schleudern höchstens ziellos ein paar Steine, oder Kot).

Andererseits gibt es mit fortschreitender Zeit auch weniger Staaten. Die meiste Gewalt der Geschichte wurde von Staaten ausgeübt. Wenn deren Anzahl schrumpft, verteilt sich die Weltbevölkerung auf immer weniger Gruppen.

Wenn nun zwei Gruppen in einen Konflikt geraten, ist also automatisch ein größerer Anteil der Weltbevölkerung betroffen.

Auch dies erklärt zusätzlich, wieso es so viele lasche Kriege im Tierreich gibt. Die wenigsten Tierarten bilden große Gruppen.

Ein dritter Grund, der uns eingefallen ist, ist, dass mit der Zeit Entscheidungsträger immer weniger in direkte Kampfhandlungen eingebunden wurden. In vielen Naturvölkern war es üblich, dass der Anführer im Krieg mitkämpfte. Selbst im Mittelalter war der König oder Kaiser meist selbst auf dem Schlachtfeld. Einige, wie Richard Löwenherz, kämpften persönlich an vorderster Front.

Doch mit der Zeit änderte sich dies. Das letzte europäische Staatsoberhaupt, dass in einer Schlacht starb, war der schwedische König Gustav II. Adolf. Dieser fiel übrigens im Zuge des dreißigjährigen Krieges in Deutschland ein und wurde im November 1632 bei Lützen in einer Schlacht gegen ein kaiserliches Heer getötet.

Wenn man weiß, dass man selbst an vorderster Front kämpfen muss überlegt man es sich natürlich zweimal, ob man einen Krieg anfängt. Dies kann zumindest erklären, wieso Kriege mit der Zeit immer seltener werden.

Punchline

Richtet euch darauf ein, dass es in Zukunft weniger Kriege geben wird, die dafür aber umso heftiger sind.

Quellen

Brecke, Peter. „Violent conflicts 1400 AD to the present in different regions of the world.“ 1999 Meeting of the Peace Science Society. 1999.

Fry, Douglas P., and Patrik Söderberg. „Lethal aggression in mobile forager bands and implications for the origins of war.“ Science 341.6143 (2013): 270-273.

Lincoln Park Zoo. „Nature of war: Chimps inherently violent; Study disproves theory that ‚chimpanzee wars‘ are sparked by human influence.“ ScienceDaily. ScienceDaily, 17 September 2014.

Wrangham, Richard W., and Michael L. Wilson. „Collective violence: comparisons between youths and chimpanzees.“ Annals of the New York Academy of Sciences 1036.1 (2004): 233-256.

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Allgemein Besondere Tode und andere historische Ereignisse

Die Kosaken und der Sultan

Wir schreiben das Jahr 1676.

Der dänische Astronom Ole Rømer stellt der Pariser Académie des sciences seine These vor, dass die Lichtgeschwindigkeit eine endliche Größe sei. Antoni van Leeuwenhoek beobachtet als erster Bakterien in Gewässern und im menschlichen Speichel. Und in Hamburg wird die Feuerkasse gegründet, die älteste bestehende Versicherung der Welt.

Doch obwohl all diese bahnbrechenden Ereignisse in Europa stattfinden, hat das Abendland machtpolitisch zu dieser Zeit eher wenig zu melden.

Das Osmanische Reich

Seht euch mal diese Karte an. Dort seht ihr den mächtigsten Staat der „westlichen“ Welt zu dieser Zeit, Erdogans feuchten Traum: das Osmanische Reich.

Die Grenzen des Osmanischen Reiches im Zeitverlauf.

Wie ihr sehen könnt, hatten es sich die Vorfahren unserer Mitbürger mit türkischem Migrationshintergrund auf die Fahne geschrieben ihre Landesgrenzen auszudehnen. Im Jahre 1300 war das Osmanische Reich noch deutlich kleiner als die Türkei heute, wurde aber immer größer.

Im 16. Jahrhundert dehnte es sich dann rasant aus. Gebiete in Afrika, Asien und Europa wurden gleichermaßen erobert. So wurden etwa der gesamte Balkan, Griechenland und Ungarn türkisch. Im 17. Jahrhundert kamen dann noch ein paar weitere Gebiete in Asien und Afrika dazu.

Der oberste Herrscher des osmanischen Reiches war der Sultan, der damals wohl mächtigste Mann in Europa und Vorderasien.

Im Jahre 1676 gelang den Kosaken jedoch ein überraschender Sieg über das osmanische Heer.

Kosaken? Wer sind die denn?

Die Kosaken

Die Geschichte der Kosaken ist unklar und es ranken sich verschiedene Legenden um ihre Herkunft.

Einige nehmen an, sie seien die Nachkommen der Kumanen, eines Volkes, welches schon in der Antike in Osteuropa siedelte. Andere wiederum gehen davon aus, dass es sich bei den Kosaken ursprünglich um Bauern und Leibeigene handelte, die von ihren Herren in Zeiten schlechter Ernten und Hungersnöten vertrieben wurden und nun auf sich selbst gestellt waren.

Wo auch immer die Ursprünge dieser Reiterverbände liegen – die Kosaken waren spätestens ab dem 17. Jahrhundert eine Macht, mit der man als Herrscher im osteuropäischen Raum rechnen musste.

Der Kosake Iwan Bolotnikow, der seine Karriere als Leibeigener und Sklave auf einer osmanischen Galeere begann, führte zwischen 1606 und 1607 einen der größten Aufstände in der russischen Geschichte an.

Bogdan Chmielnickij führte in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Armee aus Kosaken, Bauern und Tataren an und versetzte so die polnisch-litauische Adelsrepublik in Angst und Schrecken. Hundert Jahre später lieferte sich der Kosake Emeljan Pugačev einen erbitterten Kampf um die Herrschaft im russischen Reich mit Katharina der Großen.

Professionelle Diplomatie

Ende des 17. Jahrhunderts gerieten auch die Osmanen mit den Saporoger Kosaken aneinander. Der Sultan, Mehmet IV wollte den Konflikt auf diplomatischem Wege lösen. So schickte er den Kosaken einen Brief, dessen Inhalt für sich spricht:

Ich, Sultan und Herr der Hohen Pforte, Sohn Mohammeds, Bruder der Sonne und des Mondes, Enkel und Statthalter Gottes auf Erden, Beherrscher der Königreiche Mazedonien, Babylon, Jerusalem, des Großen und Kleinen Ägyptens, König der Könige, Herr der Herren, unvergleichbarer Ritter, unbesiegbarer Feldherr, Hoffnung und Trost der Muslime, Schrecken und großer Beschützer der Christen, befehle euch, Saporoger Kosaken, freiwillig und ohne jeglichen Widerstand aufzugeben und mein Reich nicht länger durch eure Überfälle zu stören.

Sultan Mehmed IV

Stell euch vor ihr haltet so einen Brief in euren Händen? Der mächtigste Mann der euch bekannten Welt fordert euch zur Unterwerfung auf?

Wir zeigen euch jetzt, wie man mit einer so schwierigen Situation umgeht. Die Kosaken waren Meister der Diplomatie. Und all ihre Kenntnisse, gepaart mit viel Arbeit und langem Abwägen über die optimale Formulierung, haben als Ergebnis einen ganz besonderen Brief hervorgebracht.

Die Kosaken in diplomatischer Mission. (Gemälde von Ilja Repin, 1891)

Hier das besagte Schriftstück:

Du türkischer Teufel, Bruder und Genosse des verfluchten Teufels und des leibhaftigen Luzifers Sekretär! Was für ein Ritter bist du zum Teufel, wenn du nicht mal mit deinem nackten Arsch einen Igel töten kannst? Was der Teufel scheißt, das frisst du samt deinen Scharen. Du wirst keine Christensöhne unter dir haben. Dein Heer fürchten wir nicht, werden zu Wasser und zu Lande uns mit dir schlagen, gefickt sei deine Mutter!

Du Küchenjunge von Babylon, Radmacher von Mazedonien, Ziegenhirt von Alexandria, Bierbrauer von Jerusalem, Sauhalter des großen und kleinen Ägypten, Schwein von Armenien, tartarischer Geisbock, Verbrecher von Podolien, Henker von Kamenez und Narr der ganzen Welt und Unterwelt, dazu unseres Gottes Dummkopf, Enkel des leibhaftigen Satans und der Haken unseres Schwanzes. Schweinefresse, Stutenarsch, Metzgerhund, ungetaufte Stirn, gefickt sei deine Mutter!

So haben dir die Saporoger geantwortet, Glatzkopf. Du bist nicht einmal geeignet, christliche Schweine zu hüten. Nun müssen wir Schluss machen. Das Datum kennen wir nicht, denn wir haben keinen Kalender. Der Mond ist im Himmel, das Jahr beim Fürsten und wir haben den gleichen Tag wie du. Deshalb küss unseren Hintern!

Unterschrieben:
Der Lager-Ataman Iwan Sirko mitsamt dem ganzen Lager der Saporoger Kosaken.

Das Nachspiel

Wie ihr an der oben Dargestellten Karte sehen könnt, hatte das Osmanische Reich zu diesem Zeitpunkt seine größte Ausdehnung erreicht.

Im Jahre 1683 wurde das osmanische Heer vor Wien geschlagen. Zwei Jahre zuvor endete auch der Krieg mit Russland, in dem die Saporoger Kosaken auf russischer Seite gekämpft hatten.

In den folgenden Jahrhunderten verlor das Reich immer mehr Gebiete bis schließlich nur noch das Gebiet der heutigen Türkei übrig blieb.

Sultan Mehmed IV wurde übrigens später entmachtet und gefangen gesetzt. Er ging als Sultan in die Geschichte ein, dem die Jagd wichtiger war als die Staatsgeschäfte.

Was unsere Kosaken angeht: ihr Anführer Ivan Sirko ging als Held in die ukrainische Folklore ein. Bis heute ist sein Name dort weit bekannt.

Wie du siehst, sind die Kosaken ganz schön harte Burschen gewesen. Die Geschichte eines ganz besonderen Exemplars, Iwan Bolotnikow, findest du hier.

Quellen

Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief. In: Wikipedia (aufgerufen am 15.1.2021)

I. Bernard Cohen: Roemer and the first determination of the velocity of light (1676). In: Isis. 31, 1940, S. 327–379.

Robert D. Huerta: Giants of Delft: Johannes Vermeer and the natural philosophers; the parallel search for knowledge during the age of discovery. Bucknell University Press, Lewisburg, Pa., U.S.A. 2003, ISBN 0-8387-5538-0.

Robert Waissenberger: Europa und die Entscheidung an der Donau 1683 Salzburg, Wien 1982.

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Die unglaubliche Karriere eines russischen Leibeigenen

Die gute alte Leibeigenschaft

Die Leibeigenschaft in der feudalen Gesellschaft des Mittelalters. Sie beschreibt ein soziales Verhältnis zwischen Herrn und Diener, das uns heute mehr als unmenschlich erscheint. Ein Mensch soll die volle Verfügungsgewalt über das Leben eines anderen Menschen haben? Nein! Diese Vorstellung ist mit unserer Auffassung von gesellschaftlichem Miteinander und der Würde des Menschen nicht vereinbar.

Und doch fristete ein Großteil der europäischen Bevölkerung mehrere Jahrhunderte ein Leben in diesem Stand. Während wir über die Ständegesellschaft, ihre Regeln und deren Legitimierung verhältnismäßig viel wissen, sind kaum detaillierte Biographien leibeigener Bauern bekannt.

Natürlich ist es verständlich, dass Chronisten und Hofschreiber es für wichtiger erachteten die Leben großer Herrscher und Herrscherinnen und anderer wichtiger politischer und militärischer Akteure aufzuschreiben.

Doch gibt es die seltenen Fälle, in denen Leibeigene in Positionen gerieten, in denen sie die Macht hatten über den Verlauf der Geschichte zu entscheiden. Die Geschichten dieser Fälle erinnern mehr an Legenden und Sagen oder romantische Abenteuerromane als an historische Zeugnisse – und doch sind sie tatsächlich geschehen.

Iwan Bolotnikow

Ein solcher Fall ist das unglaubliche Leben des, Mitte des 16. Jahrhunderts geborenen, russischen Leibeigenen Iwan Bolotnikow. Die ausführlichste Quelle über dessen Leben sind die Aufzeichnungen des deutschen Abenteurers Conrad Bussow.

Aus diesen geht hervor, dass Bolotnikow wie viele russische Bauern im 16. Jahrhundert aus der Leibeigenschaft floh, um sich den Kosaken anzuschließen. In den Reihen dieser unabhängigen Reiterverbände versprach er sich wohl ein Leben frei von Zwang und Ketten.

Seine Pläne wurden jedoch jäh durchkreuzt. Die „Wilden Felder“, wie die russisch-ukrainische Steppe schon seit der Antike genannt wurde, waren nicht nur Heimat der Kosaken.

Tataren durchstreiften die Steppe auf der Suche nach Beute. Das Zentrum ihres Reiches war die Krim, doch führten sie unentwegt Raubzüge in das wilde Grenzland zwischen der polnisch-litauischen Adelsrepublik und dem Russischen Reich. Zwar hatten sie den muslimischen Glauben angenommen, doch fühlten sie sich als Nachfolgerstaat der Goldenen Horde auch als Mongolen, weshalb Streifzüge und das Eintreiben von Tribut wichtiger Bestandteil ihrer Lebensweise waren.

Auf der Flucht vor den Verfolgern seiner russischen Herren geriet Bolotnikow also vom Regen in die Traufe. Er lief einem Bataillon plündernder Tataren in die Arme, die ihn gefangen nahmen und als Sklaven an einen osmanischen Herrn verkauften.

Jetzt mag man sich fragen: Und so soll er die Geschicke Europas beeinflusst haben? Indem er aus der Leibeigenschaft geflohen ist nur um dann gleich wieder gefangen genommen und als Sklave verkauft zu werden?

Die unglaubliche Geschichte fängt ja gerade erst an.

In der Sklaverei

Der neue Efendi (türk. Herr) setzte Bolotnikow als Ruderer auf einer Galeere ein, die das Mittelmeer befuhr. Bei einer dieser Reisen hatte Bolotnikow Glück. Die Galeere geriet in eine Seeschlacht mit einer deutschen Flotte und wurde aufgerieben. Er wurde befreit und nach Venedig gebracht.

Dort erreichte ihn die unglaubliche Nachricht, dass der 1606 ermordete Zar Dmitri (der heute als falscher Demetrius bekannt ist) den Anschlag auf sein Leben wie durch ein Wunder überlebt hatte. Nun wollte er seinen rechtmäßigen Anspruch auf den russischen Zarenthron geltend machen, indem er ein Heer von Verbündeten um sich sammelte.

Einschub: Der falsche Dmitri

Die Geschichte des Falschen Dmitri und seiner Nachfolger ist eine interessante Episode in der russischen Geschichte, die einen kurzen Exkurs rechtfertigt.

Der erste falsche Dmitri war ein Mönch, der sich für den 1591 im Alter von 9 Jahren ermordeten Sohn Iwan des Schrecklichen ausgab. Er mobilisierte Truppen und marschierte gegen Moskau um seinen Herrschaftsanspruch geltend zu machen. Der damalige Zar Boris Godunow, der nach dem Ende der Rurikiden-Dynastie die Macht in Russland ergriffen hatte, starb unerwartet. Dmitri wurde zum Zaren erklärt.

Die politischen Ziele des falschen Dmitri waren verhältnismäßig fortschrittlich. Er versuchte die Leibeigenschaft in Russland zu lockern und versprach den Bauern und Kosaken mehr Rechte und Freiheiten.

Nicht zuletzt mögen es diese „liberalen“ Ideen gewesen sein, die Bolotnikow dazu veranlassten den langen und schwierigen Weg von Venedig nach Russland auf sich zu nehmen um dort in den Dienst des, wie er glaubte, rechtmäßigen Zaren zu treten.

Das Glück des jungen Zaren war jedoch nicht von Dauer. Kaum 11 Monate konnte er sich an der Macht halten bevor Wassili Schuiski, ein früherer Verbündeter, ihn ermorden ließ und anschließend selbst zum Zaren ernannt wurde.

Dmitri wurde Bussows Chronik zufolge 9 Tage nach seiner Hochzeit mit der polnisch-litauischen Adeligen Marina Mniszech öffentlich gelyncht, nachdem die Bojaren und die Moskauer Bürger gegen ihn aufgehetzt worden waren. Seine Leiche wurde in Moskau auf dem Marktplatz öffentlich ausgestellt, beschimpft und schließlich verbrannt. Die Asche verstreute man in alle Winde, um sicherzugehen, dass der Tote niemals wiederkehre.

Diese Maßnahme stellte sich letztendlich jedoch als wirkungslos heraus.

Einschub II: Der falsche falsche Dmitri

Kurze Zeit nach Dmitris Ableben verbreiteten sich Gerüchte. Man munkelte der Zar (der falsche Dmitri) hätte den Anschlag auf sein Leben wie durch ein Wunder überleben können.

Tatsächlich gab sich also ein zweiter Schwindler als erster Schwindler aus, welcher fälschlicherweise angegeben hatte, der Thronfolger zu sein.

Verrückt, oder?

Bolotnikow glaubte fest an die Rechtmäßigkeit des ersten Dmitris. Doch war er wahrscheinlich genauso verwirrt wie wir. Als er in Polen ankam war der falsche Dmitri bereits tot und Bolotnikow traf den falschen falschen Dmitri.

Ob Bolotnikow dies jemals verstanden hat wissen wir bis heute nicht. Wir wissen nur, dass er dem falschen falschen Dmitri die Treue schwor.

Dieser schmiedete bereits fleißig Pläne die Macht in Russland an sich zu reißen. Bei diesem Unterfangen konnte er auf Unterstützung aus Polen hoffen und sich der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsgruppen bedienen, um gegen Schuiski mobil zu machen.

Viele Leibeigene, Bauern und Kosaken, waren nicht begeistert davon, dass Dmitri ermordet worden war und wollten die Geschichte von seiner wundersamen Flucht nur zu gerne glauben. Dazu war Schuiskis Anspruch auf den Zarenthron nicht allzu stark, da er kein Mitglied der Zarenfamilie war. Das sorgte dafür, dass sich auch russische Bojaren gegen ihn richteten.

Der General

Über den genauen Ablauf des Treffens zwischen Bolotnikow und Dmitri II wissen wir kaum etwas. Doch muss unser Held einen enormen Eindruck auf den Thronanwärter gemacht haben. Er wurde von seinem neuen Herrn mit einer Fellmütze und einem Säbel ausgestattet, um das Kriegsglück zugunsten der Anhänger des Dmitri II zu wenden.

Doch auch wenn dieser Vorschuss nicht allzu verlockend und die Aussicht auf einen Sieg der Rebellen gering schien, führte Bolotnikow den ersten Auftrag seines Herrn gewissenhaft aus. Er überbrachte eine Nachricht an einen verbündeten Fürsten und verbreitete überall wo er hinkam die Kunde er hätte den Zaren Dmitri lebendig und mit eigenen Augen gesehen. Schon nach kurzer Zeit erlangte er die Kontrolle über ein rund 12000 Mann starkes Heer, das er gegen den, wie er glaubte, falschen Zaren Schuiski führte.

Krass, oder? Vom Sklaven zum Befehlshaber über 12000 Mann.

Mit dieser Armee gelang es Bolotnikow den bis dahin größten Aufstand im russischen Reich zu entfachen. Immer mehr Bauern, Leibeigene und Kosaken schlossen sich ihm an. Ein gemeinsames Ziel war die Abschaffung der Leibeigenschaft.

Er eroberte große Teile des russischen Reiches und belagerte schließlich Moskau.

Aber was haben wir von Napoleon und Hitler gelernt? Belagere niemals Moskau. Vor allem nicht im Winter. Bolotnikow hatte das Pech vor den beiden geboren worden zu sein, und so beging er denselben Fehler. Dies rächte sich schnell. Im Winter 1606 musste er die Belagerung wegen der Kälte aufgeben.

Von da an wendete sich das Blatt.

Bolotnikow’s Schlacht mit der Armee des Zaren bei Nizhniye Kotly, nahe Moskau. Gemälde von Ernst Lissner.

In die Ecke gedrängt

Im Juni 1607 verschanzte sich Bolotnikow in der Stadt Tula, die vom Zaren Schuiski und einem (laut Bussow) 100000 Mann starken Heer belagert wurde. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er seinem Gegner zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen war, gelang diesem ein taktisches Manöver, das die Rebellen dazu zwang, die Stadt kampflos aufzugeben und sich zu ergeben.

Der Zar ordnete an den nahegelegenen Fluss Oppa eine halbe Meile unterhalb der Stadt stauen zu lassen und setzte so große Teile der Stadt unter Wasser. Obwohl die Lebensbedingungen in der Stadt sich dadurch immens verschlechterten, weigerten sich die Belagerten noch lange Zeit ihre Waffen endgültig niederzulegen, da sie ein Entsatzheer aus Polen erwarteten.

Erst als immer deutlicher wurde, dass keine Hilfe mehr kommen würde und auch der letzte abgemagerte Hund restlos verspeist war, erklärte Bolotnikow, er wolle die Stadt aufgeben, sofern der Zar das Leben der Verteidiger verschone. Schuiski willigte ein und die Stadt wurde übergeben.

Bolotnikow soll durch kniehohes Wasser aus der Stadt zum Zelt des Zaren geritten sein. Dort warf er sich vor diesem nieder und legte sich seinen eigenen Säbel an die Kehle. Dann soll er sich mit folgenden Worten an den Zaren gewandt haben:

Ich habe für meinen Eid gestanden, den ich in Polen demjenigen, der sich Demetrius nannte, geschworen habe, ist ers oder nicht, das kann ich nicht wissen, denn ich habe ihn zuvor nicht gesehen, ich habe ihm treulich gedienet, er aber hat mich verlassen, nun bin ich allhier in deiner Hand und Gewalt. Willst du mich töten, so ist mein eigner Säbel bereit dazu. Willst du mich aber deiner Kreuz-Küssung und Zusagung nach begnadigen, so will ich dir so treulich dienen, als ich bishero dem gedienet habe, von dem ich bin verlassen worden.  

Bolotnikow wirft sich dem Zaren zu Füßen.

Der Tod

Schuiski soll seinen Schwur ihn und seine Männer zu begnadigen daraufhin nochmal bekräftigt haben und ihm freies Geleit zugesichert haben.

Sobald die Stadt jedoch wieder vollständig unter seiner Kontrolle war, ließ er Bolotnikow in Ketten legen und in Kargopol einsperren. Nach einiger Zeit Kerkerhaft wurden dem Rebellenführer die Augen ausgestochen und geblendet warf man ihn in den Fluss, wo er ertrank.

Das Leben des Iwan Balotnikow ist ebenso erstaunlich wie tragisch. Aus den untersten Ständen der mittelalterlichen Gesellschaft kämpfte er sich durch die widrigsten Umstände in eine Position, in der er die Geschicke Europas mitbestimmte.

Ein russischer Spartakus.

Von der Leibeigenschaft flüchtete er in die Wildnis. Als befreiter Sklave kehrte er in seine Heimat zurück, um einen Heuchler zu unterstützen, den er für den Zaren hielt, der sich für die Geschicke der einfachen Leute im russischen Reich eingesetzt hatte. Von diesem seinem Herrn, in den er wohl all seine Hoffnungen gesetzt hatte, schließlich im Stich gelassen, überließ er sich der Gnade eines erbitterten Feindes und war naiv genug dessen Schwur zu vertrauen.

Quellen:

Bussow, Conrad: Moskauer Chronik (Moskovskaja chronika). 1584-1613. Akademia nauk. Moskau 1961.

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Allgemein Besondere Tode und andere historische Ereignisse

Ein-Mann-Armee

Stellt euch vor ihr sitzt nach einer langen Wanderung mit euren Freunden auf einer Wiese. Der Herbst hat schon eingesetzt, doch die Sonne hat sich an diesem Tag noch einmal hervorgewagt.

Ihr habt eure Sachen ausgezogen, die Augen geschlossen und liegt im saftigen Grün, während die Sonne eure Haut wärmt.

Ach, wie gut diese Erholung nach der langen Wanderung tut.

Das muss sich am 25. September 1066 auch ein Wikinger mit unbekanntem Namen gedacht haben. Unter der Führung des mächtigen Königs von Norwegen war er mit nach England gekommen.

Dort war nämlich der alte König gestorben und es gab Erbstreitigkeiten. Der Zweitgeborene des alten englischen Königs wollte nicht mit ansehen, wie sein älterer Bruder den Thron für sich beanspruchte.

Das könnt ihr vielleicht nachvollziehen, wenn ihr Geschwister habt. Hattet ihr nicht auch schon irgendwann einmal das Gefühl, dass eure Geschwister bevorzugt werden?

Und was macht man in so einer Situation?

Richtig.

Krieg erklären!

Das kennt man noch aus dem Sandkasten.

Der jüngere Sohn des englischen Königs hatte den norwegischen König um Hilfe gebeten um seinen älteren Bruder um die Ecke zu bringen. Und weil in England einzufallen im Jahre 1066 sowieso schon Tradition bei den Wikingern war, sagten die Norweger zu.

Du kannst nicht vorbei!

Die Wikinger hatten ihre erste Schlacht in England bereits vor wenigen Tagen gewonnen. Sie schlugen in Yorkshire, unweit eines Flusses mit nur einer kleinen Brücke, ihr Lager auf.

Nun war geplant sich von den Strapazen der letzten Tage zu erholen, mit viel Met und gutem Essen.

Soweit der Plan…

… der anscheinend ohne den rechtmäßigen englischen Thronfolger gemacht wurde (der, den sie umbringen wollten).

Er war nämlich mit seinen Truppen in Eilmärschen vorgerückt, um die Norweger zu überraschen. Und das gelang ihm. Die meisten Wikinger hatten ihre Waffen nicht bei sich als die Engländer schon in Sichtweite waren und nur noch den Fluss überqueren mussten, um zu ihnen zu gelangen. Darüber hinaus waren die Norweger betrunken, und zerstreut.

Eigentlich waren die Wikinger den Engländern überlegen, auch zahlenmäßig. Doch so verteilt wie sie nun waren, wäre es ein leichtes für die englische Streitmacht gewesen sie einen nach dem anderen nieder zu machen.

Die Norweger brauchten also Zeit, um sich zu organisieren.

Und die sollte ihnen unser Held verschaffen.

Der norwegische König persönlich beauftragte ihn damit die englische Streitmacht so lange aufzuhalten wie möglich.

Ja, ihn alleine.

Auch ein geiler Auftrag für einen Soldaten. Ich würde mal gerne sehen was passiert, wenn ein General der Bundeswehr das von einem Bundeswehrsoldaten verlangt.

Wie gesagt, wir wissen fast nichts über unseren Helden, aber anscheinend schien er einen ganz guten Ruf als Kämpfer gehabt zu haben.

Aus englischen Überlieferungen wissen wir jedenfalls, dass er die Brücke, die die Armee überqueren musste, gerade noch vor dieser erreichte. Dort stand er mit einer großen Axt in den Händen und weigerte sich störrisch die Engländer vorbei zu lassen.

Gandalf wäre stolz auf ihn gewesen.

Der namenlose Wikinger weigert sich die Engländer die Brücke überqueren zu lassen.

Du und welche Armee?

Stellt euch vor ihr seid ein erfahrener englischer Soldat, Teil der königlichen Armee. Ihr marschiert seit Tagen im Eiltempo, um die Feinde zu überraschen. Es geht um die Zukunft Englands.

Dann habt ihr die Feinde fast erreicht, ihr hört sie schon grölen. Sie bemerken euch und ihr hört die Angst in ihren Stimmen. Euer Gebieter hebt schon sein Schwert und ist dabei den Angriffsbefehl zu geben.

Und dann steht da ein halbnackter Typ mit Axt vor der Armee und will euch nicht vorbeilassen.

Das muss den Engländern zunächst lächerlich vorgekommen sein.

Zunächst!

Doch irgendwie war es dann tatsächlich gar nicht so leicht an ihm vorbei zu kommen. Einschüchtern ließ er sich nicht. Die ersten, die versuchten die Brücke zu überqueren, erschlug er. Und die, die ihn töten wollten, legte er auch um.

Und nach einiger Zeit erschwerten Duzende englische Leichen die Überquerung der Brücke noch weiter.

Aus einer lächerlichen Verzweiflungstat war auf einmal ein geniales Manöver geworden. Denn während die Ein-Mann-Armee das englische Heer in Schach hielt, formierte sich der Rest der Norweger langsam, aber sicher.

Der einzelne Wikinger hatte sage und schreibe 42 Engländer getötet und viele weitere schwer verletzt als es das Inselfolk aufgab mit fairen Mitteln gegen den Nordmann vorzugehen. Ein Engländer war während des Kampfes still und heimlich mit einem kleinen Boot und einem langen Speer zur Brücke gepaddelt.

In einem günstigen Moment stach der feige Engländer zu und verwundete den Wikinger so schwer, dass der Rest der Armee ihn schließlich überwältigen konnte.

Die Auswirkungen

Aus Sicht der Engländer hätte diese Aktion keine Sekunde länger dauern dürfen. Die Norweger hatten sich noch nicht vollständig formiert und viele Nordmänner waren sogar noch unbewaffnet.

Die Engländer überquerten die Brücke also so schnell wie möglich und griffen ohne Umschweife an.

Tatsächlich schlugen sie die als unbesiegbar betrachteten Norweger an diesem Tag vernichtend. Nur circa 10 Prozent der Norweger schafften es zurück nach Norwegen. Selbst ihr König, der heute als letzter wahrer Wikinger bezeichnet wird, starb. Ein Pfeil streckte ihn nieder.

Ironischerweise brachte den Engländern dieser heroische Sieg herzlich wenig. Fast zeitgleich zum Einfall der Norweger im Norden Englands war nämlich ein Heer der Normannen aus Frankreich im Süden Englands eingefallen.

Den Engländern blieb also keine Zeit sich auszuruhen. Nach ihrem Sieg eilten Sie, um die Normannen aufzuhalten…

… und wurden ihrerseits vernichtend geschlagen.

Tatsächlich eroberten die Normannen England. Und bis zu diesem Tag sind sie auch die letzte ausländische Macht geblieben die erfolgreich in Britannien einfallen konnte.

Was unseren Helden anbelangt. Nun, die Engländer ließen ihn keineswegs auf der Brücke vergammeln. Bevor die Normannen England eroberten, bestatteten die Engländer den Wikinger ehrenhaft, wie es einem großen Krieger gebührt.

In ihren Aufzeichnungen wurde seine Heldentat schließlich verewigt und so konnte ich euch heute etwas über ihn erzählen.

„Ein ziemlich krasser Draufgänger“ denkt ihr euch jetzt bestimmt.

Wenn euch solche Typen faszinieren, dann hab ich hie noch einen anderen Artikel, der euch sicher interessieren wird: Der Brief der seinen Schöpfer tötete.

Quellen

Marren, Peter. 1066: The Battles of York, Stamford Bridge & Hastings. Grub Street Publishers, 2004.

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Allgemein Mega-Trends

Race Relations: Die Wende

Worum geht es hier?

Immer wieder und immer häufiger liest man nun von hate crimes. Dies sind Verbrechen, die an einer Person begangen werden, nur weil diese zu einer bestimmten Gruppe gehört. Sehr häufig ist diese Gruppe eine race (zum Beispiel Farbige oder Weiße in den USA).

Ich sage race, weil es im Deutschen kein Wort für das gibt, was die Amerikaner als race bezeichnen.

Die Beziehungen zwischen den verschiedenen races in den USA scheint also angespannt.

Ist sie das wirklich? Oder übertreiben die Medien wie so oft?

Können wir abschätzen wie sich die Beziehungen zwischen den races, also die race relations in Zukunft entwickeln wird?

Was haben die race relations mit dem Aufstieg von Populisten zu tun?

Antworten auf all diese Fragen und noch viel mehr erwartet euch beim Lesen dieses Artikels!

Um welche Gruppen geht es?

In der folgenden Analyse werde ich mich auf die USA beschränken, hauptsächlich weil es dort die besten Daten gibt. In offiziellen deutschen Statistiken gibt es zum Beispiel keine Kategorie wie race. Wie gesagt, wir haben ja noch nicht einmal ein Wort dafür.

In den USA wird zwischen einer schwarzen und einer weißen race unterschieden. Hispanics sind keine race. Die meisten Hispanics bezeichnen sich als weiß. Jedoch werden sie häufig als eigene Gruppe, getrennt von der weißen race, betrachtet.

Diese drei Gruppen: Weiße, Schwarze und Hispanics machen 2020 mehr als 90% der US-Bevölkerung aus. Ich werde mich im Folgenden auf die Beziehungen zwischen diesen drei Gruppen beschränken.

Wenn ich von Weißen rede, meine ich Weiße, die keine Hispanics sind. Wenn ich von Schwarzen rede meine ich Schwarze, die keine Hispanics sind.

Die Gruppengrößen im Zeitverlauf

Wie groß sind diese Gruppen eigentlich und wie haben sich die relativen Gruppengrößen im Zeitverlauf entwickelt?

Das zeigt die folgende Graphik:

Anteile von Weißen, Schwarzen und Hispanics an der US-Amerikanischen Gesamtbevölkerung über die Zeit.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von US-Zensus Daten.
Link: www.census.gov

Die blaue Linie sagt uns für verschiedene Zeitpunkte wie hoch der Anteil der Weißen an der Gesamtbevölkerung der USA war. Zum Beispiel waren im Jahre 1950 ca. 87% der US-Amerikaner weiß.

Die USA wurden 1776 gegründet. Anteile vor diesem Zeitpunkt beziehen sich auf die europäischen Kolonien.

Wie man sieht, ist der Anteil der Weißen innerhalb der europäischen Kolonien mit der Zeit zurückgegangen, bis zu einem Tiefstand von ca. 78% im Jahre 1770. Dieser Rückgang ist vor allem durch Sklavenimporte aus Afrika zu erklären.

Ab diesem Zeitpunkt stieg der Anteil der Weißen jedoch wieder an, getrieben vor allem durch Immigration aus Irland und Deutschland im frühen 19. Jahrhundert. 1880 betrug der Anteil der Weißen wieder fast 90%. So bleib es auch bis 1950.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sank der Anteil der Weißen an der Bevölkerung extrem schnell. 2019 betrug er nur noch 60%.

Der Anteil der Schwarzen an der Bevölkerung schwankte im Zeitverlauf weniger stark. Zwischen 1600 und 1770 stieg er von 0% auf über 20% an. Von dort sank er langsam, bis er 1950 die 10 Prozent Marke unterschritt. In den letzten 70 Jahren ist der Anteil der Schwarzen leicht gestiegen und liegt nun bei ca. 12 Prozent.

Eine große Hispanic Population gibt es innerhalb der USA noch nicht lange. Jedoch wächst diese Gruppe rasant. 1950 lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung noch bei 2%. 2019 waren schon 18% aller US-Amerikaner Hispanics.

Sympathie messen

Wie würdet ihr Sympathie gegenüber einer bestimmten Gruppe messen?

Einfach fragen, oder? Jedoch muss man sehr genau aufpassen, wie man fragt, denn selbst minimale Veränderungen der Frage können zu ganz anderen Antworten führen.

Eine Standardfrage, um Sympathie zu messen sind sogenannte Gefühlsthermometer. Die sollen messen wie warm (oder wohlwollend) Gefühle gegenüber einer Gruppe sind.

Ob uns Antworten auf diese Frage wirklich etwas Relevantes verraten werde ich später noch untersuchen.

Spoiler Alarm:

Ja, tun sie wahrscheinlich schon.

Wie funktionieren diese Fragen?

Wenn man beispielsweise die Sympathie gegenüber Weißen messen will, werden die Umfrageteilnehmer gefragt, wie wohlgesinnt sie Weißen sind. Sie können sich eine Zahl zwischen 0 und 100 aussuchen. 100 bedeutet extrem wohlwollend oder positiv, 0 bedeutet sehr feindselig oder negativ.

Solche Fragen wurden in die American National Election Studies (ANES) eingegliedert. Hierbei handelt es sich um eine Umfrage, die seit über 60 Jahren wiederholt durchgeführt wird. Außerdem ist die Umfrage repräsentativ für die (Wahl-)Bevölkerung der USA.

Schauen wir uns doch einmal zusammen die Ergebnisse an.

Was denkt die Bevölkerung?

Die Thermometer-Frage wurde erstmals 1964 gestellt. Was glaubst du, wie positiv waren die Befragten damals im Durchschnitt gegenüber Weißen eingestellt?

Die folgende Graphik kann es dir verraten.

Durchschnittliche Sympathie in der US-Amerikanischen Gesamtbevölkerung gegenüber Weißen, Schwarzen und Hispanics über die Zeit.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von ANES Daten
Link: https://electionstudies.org/data-center/anes-time-series-cumulative-data-file/

Lass uns erstmal über die Punkte in der Graphik reden. Ganz oben links liegt ein blauer Punkt auf der blauen Linie. Dieser Punkt ist so nett und beantwortet unsere Frage. Im Durchschnitt haben Weiße eine Bewertung von etwa 83 (von 100) erhalten.

Ziemlich gut! Die damalige Bevölkerung hatte scheinbar eine sehr positive Meinung von Weißen.

Und wie sah das im Jahre 1980 aus?

Wir suchen einfach auf der Jahr-Achse das Jahr 1980 und suchen dann den blauen Punkt, der genau über der 1980 ist. Wir sehen: Die Wertung lag im Durchschnitt bei 77.

Einfach, oder?

Wie wurden denn Schwarze bewertet?

Auch das kann uns die Graphik verraten!

Dazu sehen wir uns einfach die grünen Punkte an. Der erste Punkt sagt uns, dass 1964 die US-Amerikaner den Schwarzen im Durchschnitt eine Wertung von 63 gaben. Deutlich weniger als bei den Weißen aber immer noch größer als 50. Das heißt, im Durchschnitt hatten die US-Amerikaner damals ein positives Bild von Schwarzen.

Wie das mit Hispanics funktioniert, weißt du jetzt bestimmt schon, oder?

Einfach nur die roten Punkte betrachten. Hier gibt es leider erst etwas später die ersten Daten, weil in früheren Umfragen nicht nach der Meinung zu Hispanics gefragt wurde. Verständlich, denn sie waren da ja auch noch eine winzige Minderheit.

Soweit zu den Punkten, was sollen die Linien?

Nun, die Punkte fluktuieren, wie man sieht. Die Linien stellen eine Schätzung für den zugrunde liegenden Trend dar.

Nun verstehen wir die Graphik und können sie interpretieren.

Wie man sieht, waren und sind Weiße die beliebteste Gruppe in den USA. Danach folgen Schwarze und Hispanics bilden das Schlusslicht.

Das heißt jedoch nicht, dass es keine Entwicklungen gegeben hätte.

1964 war der Abstand zwischen Weißen und Schwarzen gigantisch. Weiße wurden mit 20 Punkten (von 100) positiver bewertet als Schwarze.

Seitdem ist viel passiert.

Die Beliebtheit von Weißen hat sehr gelitten und ist nun 10 Punkte geringer als vor einem halben Jahrhundert. Dieser Verlust an Beliebtheit war schon 1995 abgeschlossen, er hat sich also in nur 30 Jahren vollzogen.

Seitdem nimmt das Ansehen der Weißen wieder langsam zu.

Für Schwarze und Hispanics ist der Trend genau andersherum. Von ihren relativ geringen Levels vor ca. 50 Jahren ist die Beliebtheit dieser Gruppen stark angestiegen.

In den 2000ern erreichte die Beliebtheit dieser Gruppen dann ihren bisherigen Höhepunkt. Seitdem stagnieren ihre Beliebtheit bzw. gehen leicht zurück.

Das Ansehen der Weißen war also um 2000 so gering wie sonst nie und gleichzeitig war das Ansehen von Hispanics und Schwarzen um 2000 so hoch wie sonst nie. Entsprechend war die Differenz im Ansehen auch in den 2000ern so klein wie sonst nie.

In der Tat ist der Unterschied im Ansehen zwischen Weißen und „dem Rest“ bis in die frühen 2000er immer weiter gesunken.

Doch nun vollzieht sich eine Wende.

Der Unterschied im Ansehen steigt wieder, zum ersten Mal seit über einem halben Jahrhundert.

Was denken die Weißen?

Bis jetzt haben wir uns angeschaut was der durchschnittliche US-Amerikaner denkt. Aber was denkt der durchschnittliche Weiße?

Diese Frage wird durch die folgende Abbildung beantwortet. Der einzige Unterschied zur letzten Abbildung besteht darin, dass wir nun ausschließlich die Antworten von Weißen berücksichtigen.

Durchschnittliche Sympathie unter US-Amerikanischen Weißen gegenüber Weißen, Schwarzen und Hispanics über die Zeit.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von ANES Daten
Link: https://electionstudies.org/data-center/anes-time-series-cumulative-data-file/

Wie man sehen kann, sind die beiden Graphiken recht ähnlich. Dies macht Sinn, denn der Großteil der US-Amerikanischen Bevölkerung ist weiß.

In dieser Graphik ist die Wende der Race Relations in den frühen 2000ern noch etwas deutlicher. Die Sympathie-Kurve der Weißen steigt hier etwas stärker an. Die steigende Sympathie für Weiße in den USA seit 2000 ist also darauf zurück zu führen, dass die Weißen seitdem ein positiveres Selbstbild entwickelt haben.

Die Meinung von Hispanics und Schwarzen stagniert hingegen eher seit 2000, bei Hispanics scheint sie leicht zugenommen zu haben.

Was denken die Schwarzen?

Gerade haben wir uns auf die Antworten von Weißen Befragten beschränkt. Lass und nun nur Schwarze Befragte anschauen.

Die Art der Abbildung ist wieder dieselbe, hier ist die Graphik:

Durchschnittliche Sympathie unter US-Amerikanischen Schwarzen gegenüber Weißen, Schwarzen und Hispanics über die Zeit.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von ANES Daten
Link: https://electionstudies.org/data-center/anes-time-series-cumulative-data-file/

Wir hatten vorhin gesehen, dass Weiße sich selbst sympathischer finden als andere Gruppen.

Wie man sieht, haben Schwarze auch mehr Sympathie für andere Schwarze als für Hispanics oder Weiße. Der Unterschied zwischen der Sympathie für die eigene Gruppe ist bei Schwarzen sogar deutlich stärker ausgeprägt als bei Weißen.

Weiße bewerteten die Weißen 2016 im Schnitt um ca. 7 Punkte sympathischer als Hispanics und Schwarze. Bei Schwarzen betrug der Unterschied 2016 zu Hispanics ca. 13 Punkte und zu Weißen sogar 18 Punkte.

Wie man sieht, war dies bei Schwarzen schon seit den 1960er Jahren vorhanden, 1964 sogar noch stärker als jetzt.

Im Laufe der Zeit ist diese besondere Sympathie für die eigene Gruppe, wie bei den Weißen, zurück gegangen. Bis zum Jahre 2000 hatte die Sympathie gegenüber Schwarzen abgenommen und die Sympathie gegenüber Weißen und Hispanics zugenommen.

Genau wie bei den Weißen hat aber seit 2000 eine Wende stattgefunden.

Die Sympathie gegenüber Schwarzen steigt wieder leicht, während die Sympathie für Weiße in den letzten 16 Jahren extrem zurück gegangen ist.

Die Sympathie gegenüber Hispanics ist jedoch weiter gestiegen und ist 2016 so hoch wie nie zuvor. Zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen sind Schwarze nun sogar positiver gegenüber Hispanics eingestellt als gegenüber Weißen.

Was denken die Hispanics?

Das gleiche Spiel können wir zu guter Letzt auch noch mit den Hispanics spielen. Um die folgende Graphik zu erstellen habe ich nur Antworten von Hispanics berücksichtigt.

Durchschnittliche Sympathie unter US-Amerikanischen Hispanics gegenüber Weißen, Schwarzen und Hispanics über die Zeit.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von ANES Daten
Link: https://electionstudies.org/data-center/anes-time-series-cumulative-data-file/

Wieder sehen wir, dass Hispanics ihre eigene Gruppe positiver bewerten als die beiden anderen. Im Jahre 2016 um satte 11 Punkte.

Auch hier ist jedoch wieder festzuhalten, dass Hispanics die anderen Gruppen nicht hassen. Im Gegenteil, die durchschnittlichen Bewertungen für die anderen Gruppen sind zu allen Zeitpunkten weit über der 50% Marke. Dies bedeutet, dass Hispanics Schwarzen wie Weißen wohlgesonnen sind. Ihre eigene Gruppe mögen sie nur eben noch lieber.

Wenn wir die Trends betrachten, erkennen wir, dass diese besondere Sympathie für die eigene Gruppe seit den 1970er Jahren immer weiter zugenommen hat.

Die Sympathie für Schwarze hat seit den 60er Jahren ebenfalls zugenommen während Sympathie für Weiße stark abgenommen hat. Tatsächlich war die Sympathie für Weiße jahrzehntelang deutlich höher als die für Schwarze. 2016 war die Sympathie für die Hispanics gegenüber den beiden Gruppen fast identisch.

Auch hier zeigt sich wieder ganz deutlich die Wende der Race Relations.

In den 70er Jahren hatten Hispanics etwas mehr Sympathie für ihre eigene Gruppe als für die Weißen und deutlich mehr als für die Schwarzen.

Bis zum Jahr 2000 veränderte sich die Sympathie für Weiße kaum, die Sympathie für Schwarze stieg jedoch deutlich an.

Dies führte dazu, dass die Sympathie-Differenz zwischen ihrer eigenen Gruppe und den beiden anderen Gruppen im Jahre 2000 so gering war wie nie zuvor.

Auf diese Konvergenz vor 2000 folgte jedoch eine Divergenz.

In den folgenden Jahren wurde den Hispanics ihre eigene Gruppe immer sympathischer, während ihnen die beiden anderen Gruppen immer unsympathischer wurden.

Zwischenfazit

Fassen wir unsere Erkenntnisse noch einmal kurz zusammen:

  1. Alle betrachteten Ethnien/Races in den USA finden sich selbst am tollsten.
  2. Zwischen 1960 und 2000 fand ein Mega-Trend statt. Alle 3 Hauptgruppen (Weiße, Schwarze, Hispanics) wurden immer toleranter gegenüber den anderen beiden Gruppen.
  3. Dieser Mega-Trend hat sich nun umgekehrt. Die eigene Gruppe wird nun mit der Zeit immer stärker gegenüber den anderen Gruppen bevorzugt.

Wieso ist das wichtig?

Kann ich dir sagen!

Sagen wir mal eine bestimmte Person hat den Weißen einen Sympathie-Wert von 80 gegeben, den Schwarzen einen von 70 und den Hispanics einen von 60.

Dann findet die Person Weiße um 10 Punkte sympathischer als Schwarze und 20 Punkte sympathischer als Hispanics. Man könnte auch sagen sie findet Weiße um 15 Punkte sympathischer als die durchschnittliche andere Gruppe.

Diese Differenz nenne ich Nettosympathie für Weiße. Wenn sie größer ist als 0, dann findet die Person Weiße sympathischer als den Durchschnitt der beiden anderen Gruppen. Wenn sie 0 ist, dann findet die Person Weiße genau so sympathisch wie den Durchschnitt der beiden anderen Gruppen und wenn sie positiv ist dann…

Naja, du weißt schon.

Betrachten wir jetzt gemeinsam die folgende Graphik:

Anteil der Trump-Wähler für verschiedenen Gruppen nach Netto-Sympathie für Weiße.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von ANES Daten
Link: https://electionstudies.org/data-center/anes-time-series-cumulative-data-file/

Auf der x-Achse sind verschiedene eingeklammerte Werte zu sehen. Dies sind Werte für die Nettosympathie gegenüber Weißen. Die erste Klammer bezieht sich auf Befragte, die eine Nettosympathie zwischen -69,7 und -59,9 haben. Dies sind Leute, die Weiße viel unsympathischer finden als Schwarze und Hispanics

Der schwarze Punkt oberhalb dieser Klammer zeigt an, wie viel Prozent dieser Befragten 2016 für Trump gestimmt haben. Es sind nur 20%.

Die Interpretation für die anderen Klammern ist ähnlich.

Und wir erkennen ein Muster!

Menschen, die eine geringe Nettosympathie für Weiße haben, haben zum größten Teil Clinton gewählt. Die hingegen, die eine hohe Netto-Sympathie für Weiße haben (weiter rechts), haben mehrheitlich Trump gewählt. (NA sind die, die keine Angaben machen wollten).

Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen der Sympathie, so wie wir sie gemessen haben, und dem Wahlverhalten.

Daher scheint sich eine Veränderung der von uns gemessenen Sympathie tatsächlich in echten Einstellungen und echtem Verhalten nieder zu schlagen.

Stimmt das wirklich?

Ich geb’s ja zu: die graphische Analyse oben hat eine Schwachstelle, die ich hier besprechen möchte:

Es ist nicht klar, inwieweit diese graphische Evidenz eine Kausalität widerspiegelt.

Führte eine höhere Netto Sympathie wirklich zu mehr Trump-Stimmen oder gab es eine dritte Variable im Hintergrund die beide beeinflusste?

Eigentlich müsste man ein Experiment machen oder ein natürliches Experiment finden, um Kausalität zu zeigen.

Dies würde aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Im Folgenden möchte ich aber die Daten, die mir momentan zur Verfügung stehen, nutzen, um die offensichtlichsten Probleme zu beheben. Ich werde die Ergebnisse einer OLS-Regression zeigen, in der ich für alle relevanten Variablen kontrolliere, die in der ANES Umfrage abgefragt wurden.

Dies erlaubt es mir auszuschließen, dass die kontrollierten Variablen sowohl das Wahlverhalten als auch die Sympathie beeinflussen.

Für die, die keine Ahnung haben was OLS bedeutet: Ihr könnt den nächsten Abschnitt überspringen 🙂

Was jetzt kommt wird unsere Schlussfolgerungen sowieso nicht ändern.

OLS-Ergebnisse

Die Regressionsgleichung sieht wie folgt aus:

I[i stimmt für Trump]i=a +NWi *b + Xi*c + ei

für i=1,…,N.

I[i stimmt für Trump]i ist 1 wenn Befragter i Trump gewählt hat und sonst 0. NWi ist die Netto-Sympathie für Weiße von Befragtem i. Xi ist eine Matrix, die die folgenden Variablen enthält: Bildung, Arbeitsstatus (Arbeitssuchend, arbeitend…), Soziale Klasse (Mittelschicht, Oberschicht…), Familienstand, Migrationshintergrund (ja, nein), Alter, Geschlecht, Region des Wohnorts, Race, Ethnie (enthält nicht nur Hispanics), religiöse Zugehörigkeit, Religiosität und Einstellungen gegenüber illegalen Einwanderern, Homosexuellen und Feminismus.

Die Ergebnisse der Regression sind in der folgenden Tabelle dargestellt:

Abhängige Variable:
Trump-Wahlindikator
(1)(2)
Nettosympathie für Weiße0,049***0,044***
Kontrollvariablen
DemographieNeinJa
ReligionNeinJa
Ethnie/RaceNeinJa
WerteNeinJa
BildungNeinJa
Beobachtungen2.5472.336
Angepasstes R20,0080,427
Signifikanzniveaus:*p<0,1; **p<0,05; ***p<0,01
Ergebnisse einer OLS-Regression. Es wurden robuste Standardfehler verwendet. Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von ANES Daten
Link: https://electionstudies.org/data-center/anes-time-series-cumulative-data-file/

Die Nettosympathie wurde standardisiert, um die Interpretation zu erleichtern. Die Interpretation des Koeffizienten in Spalte eins ist die folgende: eine Erhöhung der Nettosympathie einer Person um eine Standardabweichung geht einher mit einer um 5 Prozentpunkte erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass diese Person 2016 Trump gewählt hat.

Eine beachtliche Stärke. Der Zusammenhang ist auch hochsignifikant.

In der zweiten Spalte kontrolliere ich zusätzlich für alle oben beschriebenen Kontrollvariablen. Der Koeffizient bekommt nun die folgende Interpretation: was ist der Zusammenhang zwischen der Nettosympathie und dem Wahlverhalten zwischen Personen die die gleiche Demographie haben, der gleichen Race und Ethnie angehören, den gleichen Bildungsstand haben, der gleichen Religion angehören und gleich religiös sind und ähnliche Werte bezüglich Homosexualität, Illegaler Einwanderung und Feminismus haben?

All diese Dinge sind bei den beiden Personen gleich. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Nettosympathie für Weiße. Was ist dann der durchschnittliche Unterschied in der Neigung Trump zu wählen.

Wie uns der Koeffizient netter Weise verrät, haben die Personen mit einer höheren Nettosympathie für Weiße um 5 Prozentpunkte höherer Wahrscheinlichkeit Trump 2016 gewählt. Interessanterweise hat sich der Koeffizient durch das Hinzufügen all dieser Kontrollvariablen also kaum verändert, außerdem bleibt er weiter hochsignifikant. Dies spricht für ein sehr robustes Ergebnis!

Wieso?

Gut, die Race Relations scheinen sich wieder zu verschlechtern, der Mega-Trend hat sich umgekehrt. Aber was ist der Grund dafür?

Schlechte Nachrichten: diese Frage werde ich hier nicht beantworten können. Dies bedarf einer viel genaueren Analyse. Vielleicht mache ich das in der Zukunft einmal, ihr erfahrt es als erste 🙂

Was nun folgt sind eher Spekulationen. Falls ihr andere Ideen habt, schreibt sie sehr gerne in die Kommentarsektion.

Wir haben gesehen, dass sich die Wende in den frühen 2000ern ereignet hat. Dies deutet darauf hin, dass Ereignisse zu dieser Zeit die Wende herbeigeführt haben könnten.

Was ist damals Wichtiges passiert?

Mir fallen da zwei Entwicklungen ein, die einen Einfluss auf Race Relations gehabt haben könnten.

Internet

Zum einen ist da die rasante Ausbreitung des Internets zu nennen. Das Internet ermöglicht es uns mit Menschen in Kontakt zu treten, die wir sonst nie getroffen hätten. Häufig wird dies als Vorteil angesehen, doch ich bin da weniger optimistisch.

Beziehen wir uns auf Schwarze und Weiße. Ich bin weiß. Wenn ich über das Internet mit fast jedem Menschen in Kontakt treten kann, kommuniziere ich mehr mit Schwarzen.

Einerseits können so Freundschaften entstehen, was die Race Relations verbessern sollte. Andererseits lande ich so vielleicht auch auf Seiten auf denen Schwarze schlecht über Weiße reden (denkt an die Youtube Kommentarsektion mancher Videos). Das wird eher zu Abneigung gegenüber Schwarzen führen. Es gibt also zwei Effekte, die in gegenseitige Richtungen wirken. Diese beiden Effekte wirken natürlich auch auf Schwarze.

Unter Umständen könnte der negative Effekt den positiven überwiegen. Denkt zum Beispiel daran, wie das Internet missbraucht werden könnte bzw. bereits missbraucht wird. Eine kleine Gruppe von Menschen, die die Race Relations verschlechtern wollen, könnten absichtlich Hasskommentare unter falschen Identitäten posten. Dazu kommt noch, dass sich Nachrichten die Empörung hervor rufen besonders schnell verbreiten.

Die Theorie wäre hier also, dass US-Amerikaner durch das Internet mehr (negativem) Kontakt mit Menschen anderer races ausgesetzt wurden. Dies könnte beispielsweise dadurch passiert sein, dass negative Erfahrungen stärker wirken als positive oder dass das Internet von einigen Aktivisten missbraucht wurde.

Identity Politics

Race Relations sind eng verbunden mit dem Kampf der Schwarzen für Gleichberechtigung. Hier hat sich ein krasser Wandel vollzogen.

Die Aktivisten der 60er Jahre wie Martin Luther King hatten universalistische Ziele. Ihnen ging es darum, dass Schwarze und Weiße eben nicht als Schwarze oder Weiße, sondern als Menschen betrachtet werden. Man blickte also auf die Gemeinsamkeiten, nicht die Unterschiede.

In den frühen 2000ern hat sich dies geändert. Aktivisten für die Rechte von racial minorities (hauptsächlich Schwarze) begannen damit die Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen zu betonen.

Nach Meinung dieser Aktivisten gibt es einen Rassismus gegen Schwarze, der tief in der US-Amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist. Fast jeder Schwarze sei von diesem Rassismus betroffen wohingegen Rassismus gegen Weiße fast nicht oder gar nicht existiere. Daher seien die Lebensumstände von Schwarzen und Weißen sehr unterschiedlich.

Diese Sichtweise wird durch die hier dargestellten Daten teilweise untermauert. Wie wir gesehen haben, sind Menschen gegenüber anderen Menschen ihrer eigenen Race besonders positiv eingestellt. Dies könnte man als Rassismus bezeichnen.

Zwar sind Schwarze nach dieser Definition deutlich rassistischer als Weiße (und Hispanics), jedoch gibt es auch deutlich mehr Weiße als Schwarze in den USA. Man könnte also argumentieren, dass Schwarze im Schnitt mit mehr Rassismus konfrontiert werden als Weiße.

Und diese unterschiedlichen Lebensumstände müssen nach ihrer Meinung eine unterschiedliche Behandlung nach sich ziehen. Dieser Logik folgend verlangen solche Aktivisten typischerweise mehr Rechte für Schwarze als für Weiße, zum Beispiel dadurch, dass bei ähnlicher Qualifikation immer ein schwarzer Bewerber genommen werden muss.

Ein riesiges Problem dieses Ansatzes ist natürlich, dass die offizielle Diskriminierung so gestaltet werden muss, dass die inoffizielle Diskriminierung exakt ausgeglichen wird. Denn natürlich könnte die gesetzliche Bevorzugung von Schwarzen auch so weit gehen, dass die vorhandene Diskriminierung überkompensiert wird. Unter Umständen könnte man dann am Ende mehr Diskriminierung gegen Weiße haben, als jetzt gegen Schwarze besteht.

Wie auch immer.

Inwiefern dieses Weltbild richtig oder falsch ist, will ich hier nicht diskutieren. Das mache ich vielleicht irgendwann mal.

Aber es ist klar, dass solche Argumentationen die Gesellschaft entlang der races spalten können. So argumentieren beispielsweise Kaufman (2018) und Chua (2019).

Beide sehen das white identity movement und die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten 2016 als Gegenreaktion auf eine sich radikalisierende Black Identity Bewegung.

Jetzt würde mich interessieren: was haltet ihr davon? Welche Erklärung findet ihr am plausibelsten? Schreibt mir eure Meinung doch gerne einmal in die Kommentare.

Quellen

Chua, Amy. Political tribes: Group instinct and the fate of nations. Penguin Books, 2019.

Kaufmann, Eric. Whiteshift: Populism, immigration and the future of white majorities. Penguin UK, 2018.

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Allgemein Besondere Tode und andere historische Ereignisse

Der letzte Brief eines Genies

Bist du auch ein großer Fan von trash-TV? Wartest du jede Woche sehnsüchtig auf die neue Folge von Bauer sucht Frau, der Bachelor, die Bachelorette, Germany’s next topmodel oder DSDS? Wir von Some Ideas auch!

Aber wieso eigentlich?

Ich glaube, der Mensch hat ein Bedürfnis nach Status. Um sich zu vergewissern, dass man nicht ganz unten in der sozialen Hierarchie steht, genügt es, unter sich selbst einen noch größeren Idioten vor zu finden. Fernsehsender haben dieses Bedürfnis erkannt und befriedigen es gerne. Wenn wir wieder einmal ein Date verpatzt haben oder nicht zu einer Party eingeladen worden sind, können wir getrost die neuste Folge von Love Island schauen und mit dem guten Gefühl einschlafen „so doof wie die bin ich dann doch nicht“.

Schön und gut, aber stellt euch mal vor ihr wärt nur noch von trash-TV Menschen umgeben. Ihr würdet quasi den ganzen Tag nur trash-TV sehen. Stellt euch vor ihr wärt WIRKLICH intelligenter als alle anderen, hättet nie jemanden getroffen, der mit euch gedanklich Schritt halten kann. Zu schlau für diese Welt sozusagen.

Was wäre wohl aus euch geworden?

Die Jugend des Évariste Galois

Schwer zu sagen, aber ich kann euch sagen, was aus Évariste Galois wurde, einem französischen Wunderkind des 18. Jahrhunderts. Évariste Galois erblickte das Licht der trash-TV Welt im Jahre 1811 unweit von Paris. Bis zu seinem 12. Lebensjahr wurde er ausschließlich von seiner Mutter unterrichtet.

1823 bestand er die Aufnahmeprüfung am Collège Louis-le-Grand und trat in die vierte Klasse ein.

Eine Zeichnung des jungen Évariste Galois

An diesem Internat war das Leben deutlich härter als ihr es vielleicht von eurer Schulzeit gewohnt seid. Die Schüler wurden um 5:30 Uhr geweckt, um sich sogleich am Hofbrunnen zu waschen. Nach einem morgendlichen Gebet wurde dann erstmal bis 19:30 Uhr gelernt, abgesehen von 3 Mahlzeiten. Auch die Klassenzimmer waren deutlich gefüllter als es heute üblich ist. Daher gab es auch keine Stühle, sondern die Kinder und Ratten knieten vor dem Lehrer auf dem Boden.

Ja, richtig gelesen.

Der kleine Évariste war von seiner Mama fachlich bestens auf die schulischen Anforderungen des Louis-le-Grand vorbereitet worden. Jedoch hatte sie es versäumt ihm beizubringen, (aber vielleicht war dies auch einfach nur ein Ding der Unmöglichkeit) dass er sich auch mit Dingen auseinanderzusetzen hatte, die er nicht mochte.

Darin lag die Tragik seiner Existenz.

Sein ungeheures mathematisches Talent offenbarte Galois erstmals im Matheunterricht. Wie sein Klassenkamerad Ludovic Lalanne zu Dupuy später erzählte, las Galois komplexe mathematische Bücher wie andere Menschen Romane lesen. Um seine Worte zu benutzen:

Mit einem Flügelschlag am Anfang verließ sein Geist die Niederungen, um sich geschwind zu den Gipfeln zu erheben.

Wann glaubst du hat das letzte Mal jemand so über dich gesprochen?

Haha, Lusche!

Zu dieser Zeit konnte seine ganze Familie die Änderung seiner Gemütslage feststellen. Im Internat wurde sein Benehmen immer eigenartiger. Er isolierte sich von seinen Klassenkameraden und schien sich nur noch für die Mathematik zu interessieren.

Am Anfang des Jahres schrieb sein Studienaufseher noch, dass er ihn ,,sehr sanft und voller Unschuld und guter Eigenschaften finde” aber dennoch konnte er nicht umhin festzustellen, dass er etwas seltsam sei.

Am Ende des dritten Trimesters sah seine Beurteilung deutlich schlechter aus:

Dieser Schüler, der nur in den letzten vierzehn Tagen ein wenig arbeitete, blieb nur aus Angst vor Strafe auf dem Stand der Klasse, und wurde infolgedessen auch bei jeder Gelegenheit bestraft. Mal – und das war meistens – erledigte er seine Hausaufgaben unvollständig, mal verpfuschte er sie, und im Falle von einigen Lateinaufsätzen schrieb er nur das Thema ab. Sein Ehrgeiz, seine oft geheuchelte Sonderlichkeit, und ein seltsamer Charakter trennen ihn von seinen Kameraden.

Ich weiß nicht, ob es dir ähnlich geht, aber ich erkenne mich hier total wieder. Ich könnte schwören, dass mein alter Lateinlehrer genau das gleich über mich geschrieben hat, außer das mit dem Charakter vielleicht.

Vielleicht sind wir beide ja auch Genies!

Tipps und Tricks fürs Vorstellungsgespräch

Mit 17 machte sich das mathematische Wunderkind dann auf, um an einer besonderen Hochschule für Ingenieurwissenschaften und Mathematik zu studieren.

Falls du dich gerade auf ein Stipendium, Studienplatz oder Job beworben hast, und noch ein paar Tipps dafür haben willst, wie man ein Vorstellungsgespräch optimal führt, dann pass jetzt gut auf. So macht es ein Genie:

Das Format der Vorstellungsgespräche an dieser speziellen Uni sah so aus: Einige Prüfer stellten dem Prüfling mathematische Fragen. Manche dieser Fragen konnten direkt beantwortet werden, andere sollten auf einer Tafel vorgerechnet werden.

Wie zu erwarten brillierte Galois bei den direkt beantwortbaren Fragen. Leider hatte er aber die Gabe all seine Beweise direkt im Kopf führen zu können, ohne sich Notizen machen zu müssen. Daher war er nicht geübt darin, Tafeln zu beschriften. Als die Prüfer ihn aufforderten einen Beweis an der Tafel zu führen, war er also verwirrt.

Er soll den Prüfern gesagt haben der Beweis sei so trivial, dass eine Rechnung an der Tafel ohnehin nicht nötig sei.

Ab diesem Punkt ging die Stimmung eher Berg ab. Zu einem späteren Zeitpunkt des Gesprächs bemerkte Galois, dass einer der Prüfer inkonsistent argumentierte. Selbstverständlich wies ihn Évariste darauf hin. Als der Prüfer seinen Fehler nicht einsehen wollte soll Galois zum ersten Mal im gesamten Vorstellungsgespräch die Kreide benutzt, und nach dem Prüfer geworfen haben.

Andere Überlieferungen widersprechen dieser Auslegung und behaupten er hätte nicht die Kreide, sondern den Schwann geworfen.

Wie auch immer, überraschender Weise bestand Galois die Prüfung an diesem Tag nicht. Wie ein Historiker später bemerkte:

Ein Kandidat von überlegener Intelligenz wurde von einem Prüfer von unterlegener Intelligenz zugrunde gerichtet. Barbarus hic ego sum quia non intelligor illis!

Zu Deutsch: Hier bin ich ein Barbar, weil mich die Leute nicht verstehen.

Merk dir den Spruch. Kommt gelegen, wenn man durchgefallen ist, zum Beispiel durch die Führerscheinprüfung.

Der Beweis des Jahrhunderts

Doch Galois ließ sich nicht verunsichern. Er war von sich und seinen mathematischen Erkenntnissen nach wie vor überzeugt. So nahm er an mathematischen Wettbewerben Teil um seine Ideen berühmten Mathematikern wie Poisson oder Cauchy vorzustellen.

In einer dieser Arbeiten löste er (noch als Schüler) eines der schwersten und wichtigsten mathematischen Probleme seiner Zeit.

Neugierig?

Es ist ja klar, wie man die Gleichung x + 4 = 2 lösen kann.

Wir wissen auch aus der Schule wie man eine Gleichung der Form x2 + x + 5 = 0 lösen kann. Dafür gibt es die ABC (oder pq) Formel, die allgemein gilt.

Für Gleichungen wie 2x3 -4x2 + 2x + 9 = 6 oder x4 -x3 +2x2 + x + 0 = 1 gibt es ebenfalls allgemeine Lösungsformeln.

Aber was passiert, wenn noch ein x5 , ein x6 oder ein anderes x höherer Ordnung dazu kommt? Gibt es für diese Fälle auch allgemeine Lösungsformeln?

Spannend, oder?

Galois bewies als erster, dass es für diese Fälle höherer Ordnung keine allgemeinen Formeln geben kann. Obwohl das Problem einfach erscheint, ist der Beweis extrem kompliziert.

Galois trat also mit diesem monumentalen Jahrhundertbeweis am 1. März 1830, kurz vor dem letzten Abgabetermin, in den Grand Prix de Mathematiques, einen Wettbewerb für Mathematiker, ein.

Der berühmte Mathematiker Joseph Fourier nahm sie mit nach Hause, um sie zu begutachten …

… und starb am 16. Mai, ohne die Arbeit jemals begutachtet zu haben.

Évaristes Arbeiten wurden nicht mehr gefunden und Galois schied damit aus dem Kreis der Wettbewerber aus, ohne dass man es ihm mitteilte.

Etwa ein Jahr später wurde Galois von einem anderen großen Mathematiker, Poisson, um eine Kopie seiner verlorenen Memoiren gebeten, damit er seine Forschungen der Akademie der Wissenschaften vorstellen könnte.

Galois, der Autoritäten ohnehin nicht sonderlich wohl gesinnt war, fühlte sich diskriminiert. Wieso hatte man seine Arbeiten beim letzten Mal nicht gewürdigt? War dies etwa Teil einer Verschwörung gegen ihn?

Am 16. Januar 1831 schrieb er zurück:

Ich wage zu hoffen, dass die Herren Lacroix und Poisson es nicht schlimm finden, dass ich sie an ein Memoire über die Theorie der Gleichungen erinnere, welches ich schon vor drei Monaten eingereicht habe.

Die Forschungen, die dieses Memoire enthalten sind Teil einer Arbeit, die ich letztes Jahr im Wettbewerb um den großen Preis der Mathematik beigesteuert hatte. Darin gebe ich für alle Fälle Regeln, um zu entscheiden, ob eine Gleichung durch Radikale lösbar ist oder nicht.

Weil dieses Problem bis heute wenn nicht unmöglich so doch wenigstens als sehr schwierig für Geometer erschien, entschied das Preiskomitee A PRIORI, dass ich dieses Problem nicht gelöst haben könnte, erstens weil ich Galois heiße und mehr noch weil ich ein Schüler war. Man ließ mich wissen, dass meine Memoire verloren gegangen sei. Diese Lektion hätte mir genügen sollen. Dennoch schrieb ich dem Rat eines ehrenhaften Mitgliedes der Akademie folgend meine Memoire teilweise um und reichte sie ein.

Diesmal hatte Galois Glück. Die Kommission begutachtete seinen Beweis tatsächlich sorgfältig. Zum ersten Mal in seinem Leben wurden Galois Theorien von echten Experten begutachtet. Ein internes Dokument des Komitees veranschaulicht die Reaktion:

Wir haben alle Anstrengungen unternommen um Galois Ausführung zu verstehen. Seine Begründungen sind weder klar genug noch genügend entwickelt, dass wir ihre Korrektheit hätten verifizieren können; und wir sehen uns außer Stande davon eine Idee in diesem Bericht zu geben.

Bis heute rätseln Forscher wieso die Kommission aus so genialen Mathematikern die Ausführungen des Schülers Galois nicht verstehen konnte. Das folgende Bild zeigt übrigens den entscheidenden Teil von Galois Arbeit, die er so an die Kommission entsandte.

Die bedeutendste Erkenntnis des Évariste Galois

So kurz studiert ein Genie

Da er an seine Traumuniversität zweimal abgelehnt worden war und man sich maximal zweimal bewerben konnte, begann Évariste das Studium an einer weniger renommierten Universität.

Mit dieser konnte er sich aber nie wirklich anfreunden. Ihm missfielen die, seiner Meinung nach, unfähigen Lehrer und besonders ihre konservative Haltung.

Seinen Unmut brachte er in einem Artikel zum Ausdruck, in dem er sich über einen Lehrer lustig machte, den er ganz besonders unsympathisch fand. Dieser Brief war anscheinend nur die Spitze des Eisbergs.

Wie ein Lehrer über Évariste schreibt:

Galois ist tatsächlich der einzige Schüler, über den sich die Lehrer und Betreuer beinahe kontinuierlich seit seinem Eintritt in die Schule beklagt haben. Aber ich war zu sehr von der Idee seines unbestreitbaren mathematischen Talentes eingenommen und misstraute meinen eigenen Eindrücken, obwohl ich schon Gründe für eine persönliche Unzufriedenheit hatte. Deswegen erduldete ich die Unregelmäßigkeiten seines Betragens, seine Faulheit und seinen unnachgiebigen Charakter, zwar nicht in der Hoffnung seine Moral zu ändern, aber ihn bis zum Ende der zwei Jahre zu geleiten, ohne der Universität das zu rauben, was sie von ihm erwarten konnte, ohne seiner Mutter, die auf die Zukunft ihres Sohnes setzte, Schmerzen zuzuführen. Alle meine Bemühungen sind vergeblich gewesen, vergeblich missachtete ich die Beleidigungen. Aber seit letztem Sonntag habe ich eingesehen, dass das Übel ohne Aussicht auf Heilung ist. Es gibt keine moralischen Gefühle mehr bei dem jungen Mann, und vielleicht schon seit langem nicht mehr.

Tatsächlich wurde der von Galois verfasste Brief dann auch als Anlass genommen, um ihn der Schule zu verweisen. Einen Universitätsabschluss sollte er niemals erreichen.

Ein Genie in der Politik

Nun begann für Galois eine Zeit, in der er sich mehr und mehr der Politik widmete. Galois war überzeugter Republikaner und verachtete die Monarchie und den König Louis-Phillipe.

Unter anderem plante er sich in der Armee einzuschreiben nur um sie dann zu unterwandern. Dieser Plan wurde aber nie umgesetzt.

Galois feierte gerne mit anderen Demokraten. Eine dieser Feiern wurde ihm zum Verhängnis. Ein Mitstreiter berichtet über den Abend:

Plötzlich inmitten einer privaten Unterhaltung mit meinem Nachbarn zur Linken, drang der Name Louis-Philippe gefolgt von fünf oder sechs Pfiffen an mein Ohr. Ich drehte mich um. Eine äußerst lebhafte Szene ereignete sich fünfzehn oder zwanzig Gedecke von mir entfernt. Ein junger Mann, der in des ein Glas erhoben hatte und ein offenes Taschenmesser hielt, versuchte sich Gehör zu verschaffen. Das war Évariste Galois.

Die Justiz bekam Wind von Évaristes Gebaren und interpretierte es als Morddrohung gegen den König, Louis-Philippe. Und so wanderte das Jahrhundertgenie Évariste Galois in den Knast.

Schwer zu glauben wie nahe die höchsten Höhen und die tiefsten Abgründe manchmal beieinander liegen. Oder was meinst du dazu?

Unser guter Galois verstand sich, man möge es glauben oder nicht, tatsächlich sehr gut mit den anderen Gefangenen.

Ein Mitgefangener, Raspail, berichtete später von folgender Anekdote: Er und Galois saßen in der Gefängniskantine als eine Gruppe von Männern den Raum betrat – es waren berüchtigte Männer.

Und einer sprach Evariste direkt an:

„Was! Sie trinken Wasser, junger Mann! Oh Zanetto!“

Sie fordern Evariste, den alle im Gefängnis Zanetto nennen, auf, dass er die Republikanische Partei und die Mathematik lassen solle. . . .

„Ein ehrlicher junger Mann, der mit der gleichen Eleganz einen Trinkspruch erklärt, wie er einen Polizisten niederschlägt. . . .Kommen Sie, kommen Sie, mein armer Zanetto! Sie müssen einer von uns werden! nehmen Sie dieses kleine Glas als Versuch; man ist kein Mann ohne Frauen und guten Wein!“ . . .

Diese Herausforderung abzulehnen, wäre ein Akt der Feigheit gewesen; und unser armer Zanetto hat in seinem schmächtigen Körper so viel Tapferkeit, dass er sein Leben für den hundertsten Teil einer viel kleineren guten Tat geben würde. Er ergreift das kleine Glas mit dem gleichen Mut, wie Sokrates den Schierlingsbecher nahm. Er schluckt es in einem Zug, ohne mit der Wimper zu zucken oder seinen Mund zu verziehen; ein zweites Glas ist nicht schwieriger zu leeren als das erste; mit dem dritten Glas verliert der Anfänger sein Gleichgewicht. Triumph! Sieg! Ehre sei Bacchus im Kerker! Man hat eine reine Seele, die einen Abscheu vor Wein hat, besoffen gemacht!

Krass übrigens, dass die Gefangenen von damals beiläufig Sokrates in ihre Erzählungen mit einbringen. Das macht man heute nicht einmal mehr in gebildeten Kreisen.

Was ist nur aus dieser Welt geworden?

Liebe

Im Frühling ists besonders schlimm.

Singen die Ärzte über die Liebe in ihrem Hit M&F.

So erging es auch Évariste Galois. Er wurde im Frühling aus dem Gefängnis entlassen. Doch sein Körper war geschwächt und so wurde er zunächst in ein Krankenhaus verlegt.

Dort arbeitete auch der Arzt Jean-Louis Poterin-Dumotel, der mit seiner Familie in der gleichen Straße wohnte. Und dieser Arzt hatte eine Tochter.

Jaja, du siehst schon, wohin das hier führt.

Ihr Name war Stephanie und sie war bekannt als die schönste Frau in ganz Paris.

Nein Spaß, wir wissen eigentlich gar nichts über sie. Außer natürlich, dass sich der nun 20-jährige Évariste komplett in sie verliebt hat.

Es muss wie ein Märchen für Evariste gewesen sein. Gegeben der Zeit und seiner Biographie ist es sehr unwahrscheinlich, dass er in irgendeiner Weise mit einer Frau intim geworden ist, bevor er Stephanie traf.

Er war am Boden gewesen, von Mathematikern geschmäht, von der Gesellschaft ins Gefängnis verstoßen, krank und schwach.

Und dann beginnt der Frühling, er wird freigelassen und trifft sie, vielleicht seine erste große Liebe.

Die mehr als mittelschwere Cholera Pandemie die, damals in Europa tobte, kann seine Laune nur leicht gemindert haben.

Obwohl wir keine Bilder haben, muss Galois sie sehr schön gefunden haben, denn viel ist zwischen den beiden scheinbar nicht gelaufen. Er hat sie wohl nie richtig kennen gelernt. Also kann er sich eigentlich nur aufgrund ihres Aussehens in sie verliebt haben.

Pass auf, jetzt gleich kommt ein wirklich gutes Argument dafür, bei der Partnerwahl nicht zu oberflächlich zu sein. Oberflächlichkeit kann einen wirklich ins Grab bringen.

Alles was wir über die beiden wissen, wissen wir aus Briefen, die bei Galois gefunden wurden. Er hat einige Briefe Stephanies kopiert, möglicherweise um diese einem Freund zu schicken und seinen Kummer zu beklagen.

Denn sie hat ihn richtig hart gefriendzoned.

Lass’ uns dieses Verhältnis beenden, … und denke nicht mehr an Dinge, die nicht existieren sollten und die niemals existieren werden.

Im übrigen seien Sie Monsieur gewiss dass ohne Zweifel niemals mehr gewesen wäre; Ihre Annahmen sind falsch und ihr Bedauern entbehrt der Grundlagen.

Soweit das friendzoning. Doch dann fügte sie noch hinzu:

Wahre Freundschaft existiert fast nur zwischen Personen des gleichen Geschlechts.

Das war wohl ihr letzter Brief.

Tod

Für eine Serie, die „ungewöhnliche Tode“ heißt, hat es jetzt schon recht lange gedauert bis wir zum Tod kommen. Aber du musst doch zugeben, dass sein Leben auch ziemlich interessant war, oder?

Fassen wir kurz zusammen. Galois macht geniale Entdeckungen, doch niemand weiß sie zu würdigen. Stattdessen wirft man ihn aus der Universität und ins Gefängnis. Dann wird er schwer krank, während eine Cholera Epidemie ausbricht. Dann stirbt auch sein Vater und seine große Liebe will nichts mit ihm zu tun haben.

Ich weiß nicht, mit was für Problemen du so zu kämpfen hast, aber ich hoffe es geht dir jetzt besser. Ist halt alles eine Frage des Referenzpunkts.

Aber zurück zu Galois:

Wie genau es dazu kam ist nicht bekannt, doch kurz nachdem Stephanie ihn hatte abblitzen lassen, wurde Galois in ein Duell verwickelt.

Sich mit Pistolen zu duellieren, zum Beispiel auf Grund einer Ehrverletzung, oder wenn man um dieselbe Dame buhlte, war damals gar nicht so unüblich. Nun stand Evariste ein solches Duell bevor.

Diese Zeichnung seines Bruders Alfred zeigt Évariste kurz vor seinem Tod

Nichts gegen Galois, er war ein Genie! Aber seht ihn euch an, seht euch seine Biographie an. Denkt ihr, dieser Typ war ein guter Duellant?

Dasselbe wie ihr dachte sich Galois wohl auch.

Doch er hatte dem Duell schon zugestimmt. Und den Schwanz einzuziehen wäre ein Ehrverlust gewesen, den er nicht hinnehmen wollte. Und ohne seine Stephanie war das Leben für ihn wohl ohnehin sinnlos geworden.

So war das große Genie in der Nacht vor seinem Duell anscheinend sicher, dass dies seine letzte Nacht auf dieser Erde sein würde.

In jener Nacht schrieb er einen letzten Brief an seinen Freund Auguste Chevalier:

Ich bitte die Patrioten, meine Freunde, mir nicht vorzuwerfen aus anderen Gründen als für das Vaterland zu sterben. Ich sterbe als Opfer einer niederträchtigen Kokette und zweier von dieser an der Nase herumgeführten. In einem elenden Klatsch erlischt mein Leben. Oh, warum sterben für so eine Geringfügigkeit, sterben für etwas so Erbärmliches! Der Himmel ist mein Zeuge, dass es mir aufgezwungen wurde, dass ich einer Herausforderungen nachgegeben habe und dass ich mit allen Mitteln versucht habe es abzuwenden. Ich bereue es, eine so unheilvolle Wahrheit Männern gesagt zu haben, die so wenig in der Lage sind, sie gelassen aufzunehmen. Aber schließlich habe ich die Wahrheit gesagt. Ich gehe mit einem Gewissen frei von Lüge und reinem patriotischem Blut ins Grab. Lebt wohl, ich hatte Gutes vom Leben für das Gemeinwohl. Verzeiht denen, die mich töteten, sie sind in gutem Glauben.

Doch er hatte noch so viele mathematische Ideen im Kopf, die er noch nie wirklich zu Papier gebracht hatte, die er niemandem hatte erklären können, weil niemand ihn verstand.

Daher raffte er sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich auf und schrieb all dass, was in seinem genialen Kopf umher schwirrte, halbwegs sauber zu Papier.

Er muss wohl die ganze Nacht hindurch geschrieben haben. Anders ist seine Leistung nicht zu erklären. Das Resultat könnt ihr auf dem folgenden Bild bestaunen. Ihr müsst schon zugeben, es ist besser als das Erste.

Das letzte Werk des Galois. Eine ordentliche Version seiner Theorie mit Anmerkungen und Erklärungen.

Diese Abhandlung übersandte er seinem Freund zusammen mit dem Brief und bat ihn darum, seine Arbeit den berühmtesten Mathematikern seiner Zeit, darunter Gauß, vorzulegen. So sollte sein Vermächtnis seinen Körper überdauern.

Am Morgen des 30. Mai 1832 fand er sich, wie vereinbart, zu dem tragischen Treffen nahe dem Glaciere Teich ein. Eine Kugel, aus 25 Schritten Entfernung abgefeuert, traf ihn im Unterleib und zerfetzte seinen Darm an verschiedenen Stellen.

Obwohl er noch lebte, hatten ihn die Beteiligten allein gelassen. Ein Bauer brachte ihn Stunden später ins Krankenhaus.

Am Morgen des 31. Mai, Christi Himmelfahrt, gegen 10 Uhr, starb Évariste an den Folgen des Einschusses und der daraus entstandenen Bauchfellentzündung.

Seine letzten Worte waren an seinen jüngeren Bruder Alfred gerichtet:

Weine nicht, ich brauche meinen ganzen Mut, um mit 20 Jahren zu sterben.

Das Vermächtnis

Der Freund, Auguste Chevalier, an den Evariste sein letztes Werk gesandt hatte, schickte Kopien davon unverzüglich an die größten Mathematiker der Zeit. Doch es scheint als hätte kein einziger das Werk näher untersucht.

Erst der Mathematiker Joseph Louisville erkannte mehr als ein Jahrzehnt nach Galois Tod dessen herausragende Bedeutung.

Knapp 40 Jahre nach dem Tod von Galois, im Jahre 1870, veröffentlichte der französische Mathematiker C. Jordan ein umfangreiches Lehrbuch über die Theorie der Substitutionen, in dem die Theorie von Galois zusammenhängend dargestellt und weiterentwickelt ist. Im Vorwort würdigt Jordan die Verdienste von Galois

Der Beweis, den er schon als Schüler lieferte (das erste Gekritzel) wurde für gültig befunden. Damit war eines der größten mathematischen Probleme des Jahrhunderts gelöst.

Es wird klar, dass Galois eine ganz eigene hochkomplexe mathematische Theorie entwickelt hat, um den Beweis zu führen. Diese Theorie wird zu seinen Ehren als Galois-Theorie bezeichnet.

Heute gilt Evariste Galois als einer der talentiertesten Mathematiker aller Zeiten.

Die Lehre

Seine Geschichte klingt fast verrückt, doch sie ist wahr. Ich gebe zu, an einigen Stellen habe ich die Evidenz bewusst so interpretiert, dass die Geschichte etwas flüssiger wirkt, doch im Kern ist sie so geschehen wie geschildert.

Wenn man einmal darüber nachdenkt, bemerkt man, dass viele sehr talentierte und einflussreiche Personen ein tragisches Schicksal ereilte. Vielleicht sind tragische Lebensläufe unter Genies nicht überproportional häufig und man merkt sie sich nur eher.

Vielleicht steckt aber auch mehr dahinter. Stell dir vor du bist Galois. Genial. Niemand versteht dich. Du kannst mit niemandem über Dinge reden, die dich interessieren. Was andere sagen ist dir schon längst klar.

Menschen sind soziale Wesen. Sie brauchen soziale Kontakte, um glücklich und emotional stabil zu sein. Ich glaube auch, dass der soziale Kontakt auf Augenhöhe stattfinden muss. Nur so kann ein Geben und Nehmen entstehen, dass der eigentliche Sinn sozialer Kontakte ist.

Genies genauso wie Vollidioten fehlt vielleicht einfach sozialer Kontakt auf Augenhöhe. Stellt euch vor ihr müsstet euer ganzes Leben von jetzt an auf Love Island verbringen.

Ich kann schon verstehen, dass man da verrückt wird. Von daher, sollten wir uns eigentlich freuen, dass wir keine Genies sind. Wir sind zwar dumm, aber dafür sind wir es gemeinsam.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Ach, und wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann schaut mal hier vorbei: Der Brief der seinen Schöpfer tötete.

Quellen

Klein, Bernd. „Evariste Galois oder das tragische Scheitern eines Genies.“

Toti Rigatelli, Laura. „Evariste Galois 1811-1832.“

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