Hast du dir eigentlich schon einmal überlegt was du tun würdest, falls morgen eine feindliche Armee in Deutschland einmarschieren würde?
Ein Freund hat mir einmal in der Schule erzählt, dass die Hälfte aller Schüler schon einmal darüber während des Unterrichts nachgedacht hat. Valide Quellen schien er aber nicht zu haben.
Die Wenigsten von uns gehen wohl ernsthaft davon aus, dass wir überfallen werden könnten. Es ist 75 Jahre her, dass feindliche Truppen auf deutschem Boden standen. Die älteste Person, dich ich je kennen gelernt habe (mein Opa), war 10 als der Krieg endete. Krieg ist mir, und vermutlich auch den meisten von euch, fern.
Ist dies ein deutsches Phänomen, oder gilt es allgemeiner? Wird die Welt friedlicher? Steuern wir auf eine Welt ohne Krieg zu?
Diese Fragen versuche ich im Folgenden zu beantworten. Zu diesem Zweck schauen wir uns natürlich zunächst Daten über Kriege an.
Daten
Woher bekommt man Daten über Kriege? Es gibt verschiedene Datensätze, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Manche decken bestimmte Gebiete sehr detailliert ab, andere bieten einen groben Überblick über die gesamte Welt, in wieder anderen wird genau zwischen verschiedenen Konfliktarten unterschieden und so weiter.
Für diesen Artikel ist eine lange Zeitreihe wichtig. Ein Datensatz, der besonders weit in die Vergangenheit zurückreicht, ist der Conflict Catalog von Peter Brecke. Die Daten kannst du selbst hier herunterladen.
Obwohl sehr viel Arbeit in die Erstellung dieses Datensatzes geflossen ist, sind die Daten nicht perfekt. Dies liegt zum einen daran, dass wir von vielen Kriegen in der Vergangenheit wahrscheinlich nicht wissen. Zum anderen sind ältere Quellen häufig sehr unzuverlässig was die Opferzahl betrifft. Häufig wurde hier aus politischen Gründen übertrieben.
Diese Ungenauigkeiten sind außerhalb Europas deutlich größer. Aus diesem Grund liegt der Fokus dieser Analyse auf Europa. Dies erhöht die Datenqualität deutlich und erlaubt es uns auch weiter in die Vergangenheit zu reisen.
Abgesehen vom Conflict Catalog nutzen wir auch Bevölkerungsdaten. Diese beziehen wir aus dem HYDE (History Database of the Global Environment) Datensatz. Das ist ein riesiger Datensatz, in den Jahrzehnte der Bevölkerungsforschung kulminieren. Die Daten findet ihr hier.
Weniger Kriege
Die offensichtlichste Frage zuerst: gibt es jetzt mehr oder weniger Kriege als früher? Das ist einfach zu beantworten.
Die folgende Graphik zeigt die Anzahl der Kriege je Jahrhundert. Wir betrachten 11 Jahrhunderte, beginnend im 10.

Wie man sieht, gab es im 10. Jahrhundert in Europa etwa 180 Kriege. Ganz schön viel, vor allem im Vergleich zum 20. Jahrhundert. Da gab es nur ca. 75 Kriege.
Wenn wir uns den Trend ansehen bemerken wir, dass die Anzahl der Kriege vom 10. bis zum 13. Jahrhundert gestiegen ist.
Von dort an wurden es immer weniger. Im 18. Jahrhundert betrug die Anzahl der Kriege nur ein Sechstel der Anzahl im 13. Jahrhundert.
Im 19. Jahrhundert waren es dann wieder mehr. Die Anzahl der Kriege sank im 20. Jahrhundert aber wieder, wobei es den absoluten Tiefstand des 18. nicht unterbot.
Mehr Tote
Irgendetwas ist komisch an dem oben dargestellten Trend. Nach Abbildung 1 würde man vermuten, dass die Welt immer friedlicher wird und insbesondere das 20. Jahrhundert als besonders friedlich in die europäische Geschichte eingegangen ist.
Würde man jetzt nicht so vermuten, oder? Das 20. Jahrhundert hat schließlich durch die beiden Weltkriege deutliche mehr Todesopfer gefordert als jedes andere Jahrhundert.
Dies wird auch in der folgenden Graphik deutlich. Dort zeige ich euch, für jedes Jahrhundert, wie viele Menschen insgesamt durch Kriege zu Tode kamen (in absoluten Zahlen).
Die Zahl der Todesopfer steigt mit der Zeit rasant an. Die meisten toten forderten, wie erwartet, die Kriege des 20. Jahrhunderts, fast 30 Millionen!

Obwohl mit der Zeit tendenziell immer mehr Menschen durch Kriege sterben, ist der Zusammenhang nicht monoton. Im 17. Jahrhundert starben fast doppelt so viele Menschen durch Kriege wie im 18. Jahrhundert.
Dies ist vor allem auf den verheerenden 30-jährigen Krieg zurück zu führen, der gerade in Deutschland ganze Siedlungsgebiete leerfegte.
Natürlich ist dieser Trend zum Teil dadurch zu erklären, dass die Bevölkerung Europas mit der Zeit gewachsen ist. In der folgenden Abbildung zeige ich euch daher wie viele Menschen durch Krieg starben relativ zur Bevölkerung am Ende des Jahrhunderts.

Der letzte Punkt in Abbildung 3 sagt uns zum Beispiel, dass die Anzahl der gesamten Kriegsopfer im 20. Jahrhundert etwa 4% der Einwohnerzahl im Jahre 2000 betrug. Ganz schön viel.
Aber lange nicht so viel wie im 17. Jahrhundert. Dieses war so gesehen das gewalttätigste Jahrhundert für Europa. In keinem anderen Jahrhundert war die Wahrscheinlichkeit in einem Krieg zu sterben so hoch wie damals.
Wenn wir uns den gesamten Trendverlauf ansehen, scheint das 17. Jahrhundert jedoch auch ein Ausreißer zu sein. Im Allgemeinen steigt die Kurve an. Mit fortschreitender Zeit stirbt ein immer größerer Anteil der Bevölkerung durch Kriege.
Heftigere Kriege
Wir haben jetzt gesehen, dass es mit der Zeit immer weniger Kriege in Europa gibt, aber gleichzeitig ein immer größerer Anteil der Bevölkerung durch Kriege stirbt.
Die offensichtliche Folgerung ist, dass Kriege mit der Zeit im Durchschnitt immer mehr Todesopfer fordern.
Der Vollständigkeit halber zeige ich euch genau diese Größe noch einmal in Abbildung 4. Für jedes Jahrhundert ist dort die absolute Anzahl der Todesopfer dargestellt, die ein Krieg damals im Durchschnitt gefordert hat.

Wie erwartet steigt die Kurve rasant an. Mit fortschreitender Zeit fordert ein einzelner Krieg immer mehr tote. Relativ zur Bevölkerung gesehen sieht der Trend wieder ähnlich aus.
Wie allgemein ist dieser Trend?
Gerne würden wir einen ähnlichen Trend für einen längeren Zeitraum und andere Weltregionen zeigen. Aber wie gesagt, die Datenlage ist dort schlechter.
Können wir vielleicht auch so etwas darüber aussagen, wie diese Trends aussehen?
Ich denke schon.
Lass uns zu diesem Zweck Krieg einmal sehr allgemein definieren. Ich sage, ein Krieg ist ein Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Personen, von denen mindestens eine Gewalt einsetzt, um einer anderen Person körperlichen Schaden zuzufügen.
Dann ist es auch ein Krieg wenn ich meinen kleinen Bruder verkloppe um ihm die Fernbedienung wegzunehmen (habe ich natürlich nie gemacht 😉 ).
So gesehen ist die Natur voll von Kriegen. Ein Löwe, der eine Gazelle jagt, ist genauso ein kleiner Krieg wie auch ein Revierkampf zwischen zwei Wolfsrudeln.
In diesen Kriegen gibt es nur eben wenige Teilnehmer und meistens enden sie mit sehr wenigen toten (Löwen sind tatsächlich nicht sehr oft erfolgreich bei ihrer Jagd).
Ihr seht schon, wohin es führt. Wir hatten gesehen, dass je weiter wir in die Vergangenheit reisten, Kriege immer häufiger und wenige heftig wurden. Was ich gerade beschreibe ist so gesehen nur der Extremfall unseres Trends.
Jagden und sonstiges Messen finden in der Tierwelt andauernd statt und häufig tragen beide Parteien nur leichte Verletzungen davon. Denn entgegen der landläufigen Meinung sind die meisten Jäger sehr risikoavers und scheuen ernste Kämpfe. Schwerwiegende Verletzungen würden schließlich dazu führen, dass sie in Zukunft nicht mehr effizient jagen können, was ihren sicheren Tod bedeuten würde.
Von Affen und Atomwaffen
Wie gesagt sind Daten für die Frühgeschichte rar. Eine statistische Analyse können wir daher nicht durchführen. Eine beschreibende aber sehr wohl.
Und das machen wir in den folgenden drei Abschnitten.
Affen
Der Gombe National Park in Tansania ist wunderschön. Das dichte Grün bietet allen Bewohnern des Dschungels Nahrung und Schutz vor der prallen Sonne. Zu den Bewohnern dieses Paradieses gehört auch eine ganze Menge Schimpansen.
Und vor 35 Jahren auch ein paar Menschen. Denn damals war der Gombe noch kein Nationalpark und beherbergte ein Forschungszentrum, das Gombe Stream Research Centre.
Die Direktorin dieses Forschungszentrums war Jane Goodall. Als waschechter Hippie glaubte sie daran, dass Tiere, und insbesondere ihre geliebten Schimpansen, friedliche Wesen seien und nur der Mensch Gewalt, Krieg und Verderben in die Welt trage.
Doch am 22. Januar 1974 begann er, der Gombe Schimpansenkrieg. Mehr als vier Jahre sollte er dauern und viele Schimpansenleben kosten. Ihr glaubt mir nicht? Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel darüber: hier klicken.
Jane musste nun also mit ansehen wie sich ihre Schützlinge gegenseitig zerfleischten. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Tagebuch niedergeschrieben und später veröffentlicht.
Ich übersetze:
Ich habe viele Jahre gebraucht, um mein neues Wissen verdauen zu können. Oft, wenn ich in der Nacht aufwachte, kamen mir grausame Bilder in den Sinn. Satan (einer der Affen), der mit seiner Hand eine Wunde direkt unter dem Kinn von Sniff aufdrückt, um sein Blut trinken zu können. Der alte Rodolf, der sonst immer so liebevoll war, aufrecht stehend, um einen riesigen Stein auf Godi zu werfen, der mit dem Gesicht nach unten auf der Erde liegt. Jomeo, der Dé die Haut von den Oberschenkeln reißt. Figan, der immer und immer wieder auf den verwundeten, zitternden Körper von Goliath einschlägt, obwohl dieser sein Idol aus Kindheitstagen gewesen war.
Andere Forscher glaubten ihr nicht, als sie von den Vorfällen berichtete. Damals ging man davon aus, Menschen seien die einzige Spezies die Kriege führen würde.
Einige Forscher behaupteten schließlich, Jane hätte die Schimpansen zum Krieg aufgestachelt. Schon verrückt auf was für Ideen Menschen kommen, um ihre Grundannahmen nicht verwerfen zu müssen.
Spätere Untersuchungen ergaben aber, dass ihre Beobachtungen keineswegs ungewöhnlich waren. Krieg ist unter Schimpansen (und anderen Affen) weit verbreitet.
Typischerweise tragen die Männchen verschiedener Gruppen (die meist nur 5-20 Tiere umfassen) gewaltsame Kämpfe aus. Die siegreiche Gruppe bekommt entweder das Revier oder die Weibchen (oder beides) der Verlierer.
Anthropologen haben festgestellt, dass es diesbezüglich erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Schimpansengruppen und Gangs gibt (hier mehr dazu).
Wie euch vielleicht aufgefallen ist, passt dieser Befund perfekt in unsere Theorie. Um herauszufinden, wie Krieg bei Affen aussieht hätten wir einfach den Trend extrapoliert. Die Vorhersage ist, dass Kriege bei Affen häufig sind aber relativ wenige Opfer fordern. Diese Vorhersagen werden von der Evidenz bestätigt.
Naturvölker
Unsere affenähnlichen Vorfahren weihen nun wirklich sehr lange nicht mehr unter uns. Wie sieht es mit weniger weit entfernten Vorfahren aus?
Naturvölker gibt es noch immer. Nehmen wir mal an, dass unsere Naturvölkervorfahren ähnlich gelebt haben, wie heute noch existierende Naturvölker. Dann können wir aus dem Verhalten heute existierender Naturvölker Rückschlüsse auf unsere eigene Vergangenheit ziehen.
In der Tat passen die Befunde perfekt in unsere Theorie. Die Wissenschaftler Douglas Fry und Patrik Söderberg haben untersucht wie häufig und heftig Kriege in Naturvölkern sind. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass kleine Akte von Gewalt sehr häufig sind, größere Kriege mit vielen Toten jedoch nicht.
Atomwaffen
Nun haben wir gerade die Trends in die Vergangenheit extrapoliert. Was passiert, wenn wir in die Zukunft extrapolieren? Da würden wir erwarten, dass Kriege sehr selten sind, aber dafür extrem zerstörerisch, falls sie doch stattfinden.
Na, klingelts?
Der kalte Krieg ist kalt geblieben, obwohl sich zwei feindlich gesonnenen Mächte für 45 Jahre gegenüberstanden. In der Vergangenheit wäre der Krieg vermutlich heiß geworden. Doch diesmal gab es ein Gleichgewicht des Schreckens, in dem beide Parteien vor einem Angriff zurückschreckten, denn sie fürchteten die totale Vernichtung.
So hatten wir keinen einzigen wirklichen Krieg zwischen Großmächten, wo wir früher mehrere gehabt hätten. Doch keinesfalls kann man davon ausgehen, dass das Gleichgewicht des Schreckens immer ein Gleichgewicht bleiben wird. Es gab einige Momente im Kalten Krieg, an dem dieser ganz schön warm geworden ist (z.B. die Kuba-Krise).
Wenn sich in Zukunft andere Atommächte messen, kann der Konflikt nach wie vor eskalieren. Und falls das passiert, wird die Anzahl der Toten alles Bekannte in den Schatten stellen.
Wenn wir in die Zukunft schauen, scheint unsere Theorie also auch Sinn zu ergeben.
Wieso?
Wir haben zwei Mega-Trends beobachtet. 1) Kriege in Europa werden immer seltener. 2) Kriege in Europa werden immer heftiger.
Aber warum ist das so?
Ich werde nun ein paar potentielle Erklärungen darstellen. Welche findet ihr am plausibelsten? Oder denkt ihr, ich habe etwas vergessen? Schreibt es doch gerne in die Kommentare. 🙂
Die ersten zwei Erklärungen sind eng miteinander verbunden.
Einerseits haben Menschen mit der Zeit immer bessere Waffen entwickelt und mit denen kann man mehr Menschen töten. Auf der anderen Seite wurden auch bessere Verteidigungswerkzeuge erfunden, doch vermutlich überwiegt der Waffeneffekt. Gegen manche Waffen, wie Interkontinentalraketen, kann man sich schlecht verteidigen.
Durch diese erhöhte Letalität steigt direkt die Heftigkeit des Krieges. Entscheidungsträger wissen um diese erhöhte Heftigkeit, wenn sie sich überlegen, ob sie einen Krieg beginnen wollen. Daher sind sie vorsichtiger und starten Kriege seltener. Somit erklärt die Theorie auch, warum Kriege immer seltener vorkommen.
Dies erklärt auch, wieso Tiere häufiger „Kriege“ führen und wieso diese weniger heftig sind. Die wenigsten Tiere kämpfen mit Waffen (Affen schleudern höchstens ziellos ein paar Steine, oder Kot).
Andererseits gibt es mit fortschreitender Zeit auch weniger Staaten. Die meiste Gewalt der Geschichte wurde von Staaten ausgeübt. Wenn deren Anzahl schrumpft, verteilt sich die Weltbevölkerung auf immer weniger Gruppen.
Wenn nun zwei Gruppen in einen Konflikt geraten, ist also automatisch ein größerer Anteil der Weltbevölkerung betroffen.
Auch dies erklärt zusätzlich, wieso es so viele lasche Kriege im Tierreich gibt. Die wenigsten Tierarten bilden große Gruppen.
Ein dritter Grund, der uns eingefallen ist, ist, dass mit der Zeit Entscheidungsträger immer weniger in direkte Kampfhandlungen eingebunden wurden. In vielen Naturvölkern war es üblich, dass der Anführer im Krieg mitkämpfte. Selbst im Mittelalter war der König oder Kaiser meist selbst auf dem Schlachtfeld. Einige, wie Richard Löwenherz, kämpften persönlich an vorderster Front.
Doch mit der Zeit änderte sich dies. Das letzte europäische Staatsoberhaupt, dass in einer Schlacht starb, war der schwedische König Gustav II. Adolf. Dieser fiel übrigens im Zuge des dreißigjährigen Krieges in Deutschland ein und wurde im November 1632 bei Lützen in einer Schlacht gegen ein kaiserliches Heer getötet.
Wenn man weiß, dass man selbst an vorderster Front kämpfen muss überlegt man es sich natürlich zweimal, ob man einen Krieg anfängt. Dies kann zumindest erklären, wieso Kriege mit der Zeit immer seltener werden.
Punchline
Richtet euch darauf ein, dass es in Zukunft weniger Kriege geben wird, die dafür aber umso heftiger sind.
Quellen
Brecke, Peter. „Violent conflicts 1400 AD to the present in different regions of the world.“ 1999 Meeting of the Peace Science Society. 1999.
Fry, Douglas P., and Patrik Söderberg. „Lethal aggression in mobile forager bands and implications for the origins of war.“ Science 341.6143 (2013): 270-273.
Lincoln Park Zoo. „Nature of war: Chimps inherently violent; Study disproves theory that ‚chimpanzee wars‘ are sparked by human influence.“ ScienceDaily. ScienceDaily, 17 September 2014.
Wrangham, Richard W., and Michael L. Wilson. „Collective violence: comparisons between youths and chimpanzees.“ Annals of the New York Academy of Sciences 1036.1 (2004): 233-256.






